„Nichts ist schlimmer als das Warten auf etwas Schreckliches. Nicht einmal das Schreckliche, auf das man wartet.“
In der Literatur gibt es viele berühmte tierische Helden, abgesehen von jenen unzähligen Geschöpfen aus Märchen und Fabeln. Man denke nur an den Wal Moby Dick, die Protagonisten aus „Unten am Fluss“ und „Der Wind in den Weiden“ und all jene tierischen Ermittler, die in den vergangenen Jahren knifflige Kriminalfälle lösen konnten – von Katzen bis Schafen. Sally Jones wird ebenfalls in einen Kriminalfall hineingezogen. Allerdings als Zeugin und Angehörige des vermeintlichen Mörders. Ihr Freund Henry Koskela, ein finnischer Seemann, soll in Lissabon einen Mann getötet haben. Koskela wird verhaftet und wegen Mordes verurteilt. Sally Jones muss nicht nur abtauchen, um nicht ebenfalls in die Fänge der Polizei geraten. Sie plant, die Unschuld ihres Gefährten zu beweisen. Doch an dieser Stelle sollte noch verraten werden, dass Sally Jones eine Gorilla-Dame ist, die vorzugsweise als Maschinistin im Blaumann wertvolle Dienste leistet.
Nach dem ersten Streich „Eine Weltreise in Bildern“, für das Autor und Illustrator Jakob Wegelius für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war, gibt es nun mit dem Band „Sally Jones – Mord ohne Leiche“ ein Wiedersehen mit der besonderen Heldin. Wir treffen sie und Henry in Lissabon, wo die beiden Seeleute gestrandet sind. Ihr Schiff „Hudson Queen“ wurde nach einem Zusammenstoß mit einem Wal schwer beschädigt. Nach der Reparatur waren die Ersparnisse dahin, keine neue Fracht in Sicht; bis Anthony Morro Sally Jones und Henry Koskela einen Tipp gibt. Doch der Auftrag stellt sich schließlich als gefährliche Falle heraus: Mann und Menschenaffe werden in kriminelle Machenschaften verwickelt, ihr Schiff sinkt. Beide treffen Morro wenige Tage später wieder. Koskela will ihn zur Rede stellen. Bei einem Handgemenge stürzt der geheimnisvolle Mann schließlich ins Meer. Das tragische Geschehen ist zugleich Anfang einer Odyssee für Sally Jones, die in den kommenden Monaten und Jahren nicht nur von Portugal nach Indien reist, sondern auf ganz spezielle Menschen trifft.
Allgemein steht die Gorilla-Dame zwar im Mittelpunkt des Geschehens, ist auch dessen Erzählerin, allerdings geht es in diesem spannenden wie tiefsinnigen Buch vor allem um das Wesen der Menschen. Und Sally Jones ist nicht nur handwerklich begabt, sondern auch eine Meisterin im Erkennen menschlicher Eigenschaften. Zur Seite stehen ihr die bescheidene Ana Molina, die in einer Schuhfabrik arbeitet, aber eine talentierte Fado-Sängerin ist, und der eifrige Instrumentenbauer Luigi Fidardo, der zu Beginn Misstrauen gegenüber Sally Jones hegt, ihr schließlich aber Vertrauen entgegenbringt, als sie ihm in der Werkstatt tatkräftig unterstützt. Ein Hinweis, das Morro vermutlich nicht gestorben ist, sondern in Indien lebt, veranlasst Sally Jones, auf einem Schiff anzuheuern. Nur knapp entgeht sie dabei Kommissar Garretta, der das Affenweibchen lieber tot als lebendig sehen will. Auf ihrer Reise nach Asien lernt Sally Jones vor allem die Hinterlist und Gier des Menschen nach Geld und Macht kennen – auch der Maharadscha von Bhapur, in dessen Dienste Sally Jones tritt, ist da nicht anders. Die Gorilla-Dame lernt ihn am Schluss ihres Aufenthaltes eine wertvolle Lektion, die ihn dazu veranlasst, Sally Jones ein besonderes Geschenk der Freundschaft zu machen.
Das Buch ist reich an überraschenden Wendungen, kleinen liebevollen Geschichten und wunderbaren Ideen. Zusammen ergeben sie eine Dynamik und Dramatik, der man kaum entgehen kann. Hinzu kommt eine faszinierende Heldin, die viele Sympathie-Punkte sammelt. Sie ist eine treue Seele, die Freundschaft und Loyalität großschreibt. Nichts lässt sie unversucht, um Henry aus dem Gefängnis zu holen oder dessen Haft etwas zu erleichtern; beispielsweise mit einem Akkordeon. Sally Jones möchte man einfach zur Freundin haben, weil sie das Herz auf dem rechten Fleck trägt und auch ehrlich zu ihren Gefühlen steht, ob das nun Freude und Hoffnung oder Trauer und Angst sind.

Jakob Wegelius hat nicht nur die berührende Geschichte niedergeschrieben. Wunderschöne Illustrationen begleiten den Band und lassen so vor allem die Protagonisten vor dem Auge des Lesers entstehen. Hinzu kommen mehrere gezeichnete Karten, die die Reisen und Orte der Handlung zeigen. Der Schwede, 1966 in Göteborg geboren, hat für sein jüngstes Werk den Augustpreis für das beste schwedische Kinderbuch und darüber hinaus den Kinder- und Jugendliteraturpreis des Nordischen Rates erhalten. „Sally Jones – Mord ohne Leiche“ beschert sowohl Kindern als auch Erwachsenen eine unvergessliche Lektüre, die sich sicherlich schon nach dem hoffentlich dritten Streich sehnen.
Das Buch „Sally Jones – Mord ohne Leiche“ von Jakob Wegelius, für Kinder ab neun Jahre geeignet, erschien im Gerstenberg Verlag, in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs; 624 Seiten, 19,95 Euro
Foto: quimuns/pixabay
Welch schöne Rezension. Das Buch habe ich auch gerade gelesen. Die Ausstattung hat mir auch sehr gefallen, die Geschichte an sich fand ich allerdings nicht ganz so spannend wie Du.
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vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich fand, Wegelius spannte einen schönen Erzählfaden aus, es gab an vielen Stellen Überraschungen – obwohl es eigentlich an sie kein Krimi ist, sondern ein Abenteuer-Buch. Viele Grüße
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