Im Gegensatz zu den Kreuzfahrt-Giganten, die als Kleinstädte über die großen Meere schippern, oder die Billig-Flieger, die in Richtung All-Inclusive-Paradies abheben, wirken Reisen mit der Eisenbahn wie aus der Zeit gefallen. Wer diese Form der Fortbewegung wählt, muss mit einer Strecke vorlieb nehmen, die durch die Schiene vorgeschrieben ist, und lebt aufgrund der überschaubaren Anzahl an Waggons auf engstem Raum. Was nicht unbedingt für die Harmonie beförderlich sein kann. Helmut Pöll schickt in seinem Roman „Die Krimfahrt“ seine Protagonisten, das Ehepaar Seidlitz, auf eine Reise mit der Bahn in Richtung Osten. Das Ziel: die Halbinsel im Schwarzen Meer, die dem Buch auch den Namen gibt. Der Roman ist mein Blogbuster-Longlist-Kandidat.
Erika und Wilhelm Seidlitz könnten Nachbarn sein, so vertraut, aber auch so normal wirken sie auf den Leser. 20 gemeinsame Jahre haben sie hinter sich gebracht. Viel haben sie sich nicht mehr zu sagen. Man geht sich aus dem Weg, ein Tag gleicht dem anderen. Der eigenbrötlerische und teils auch cholerische Wilhelm verschanzt sich hinter seinen Reiseberichten, die ihm den Blick in die weite Welt ermöglichen, während seine Frau in real noch etwas erleben will. Die letzte Reise ist schon einige Jahre her. Doch eines Tages zieht in der Nachbarschaft in das Geschäft eines ehemaligen Farbladens ein Reisebüro mit dem klingenden Namen „Puschkin-Reisen“ ein. Erika kann ihren Mann überzeugen, eine Fahrt mit der Eisenbahn in Richtung Krim zu buchen. Sind die ersten Stunden in Richtung Bahnhof Prag noch recht harmonisch, schleicht sich im weiteren Verlauf ein Unbehagen bei Wilhelm ein: Nicht nur nervt das österreichische, im breiten burgenländischen Dialekt plappernde Ehepaar Grimm, das in das Abteil nebenan einzieht – nebst ihrer beiden Hunde. Wilhelm meint, in einer männlichen Gestalt auf einem Bahnhof auf der Strecke Herrn Zifferblatt zu erkennen, der ihnen einst die Reise verkauft hat. Es wird nicht die einzige mysteriöse Begegnung sein, denn mehrmals glaubt Seidlitz, Zifferblatt gesehen zu haben. Nicht alles kann doch dem Alkohol zugesprochen werden, der im Speisewagen und im Salon oft in großer Runde „eingenommen“ wird. Und warum schlüpft Erika Seidlitz am Abend heimlich aus dem Abteil und kommt erst einige Stunden später?
Was mich für „Die Krimfahrt“ eingenommen hat, waren neben dem sprachlich-erzählerischen Niveau der schalkhafte Humor, der das bilderreiche Geschehen samt dessen Spannungsbogen begleitet und nicht das eigentlich ernste Verhältnis zwischen Erika und Wilhelm belächelt, sondern vielmehr die Eigenheiten beider offen legt. Pöll vereint in seinem schmalen Werk vieles, es ist Krimi, zugleich Reisebericht, aber auch eine Art psychologischer Studie, die letztlich ein tragisches Ende nimmt. Nicht nur die Beziehung zwischen Erika und Wilhelm steht im Fokus, sondern auch die zu den anderen, meist internationalen Fahrgästen. Die Außenansichten in Form von Landschaftsbeschreibungen, die den Leser eine Reise im Kopf ermöglichen, nehmen einen breiten Raum ein.
Eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn sei für ihn schon seit der Kindheit und bis heute ein Traum gewesen, sagt der Münchner, der nach einer Ausbildung zum Redakteur bei einer Tageszeitung nun als Softwareentwickler und IT-Consultant arbeitet. „Ich habe mich immer wieder über Reisemöglichkeiten und Strecken informiert und Bilder solcher Zugfahrten und der Haltestellen gesammelt, die ich dann während des Schreibens um mich ausgebreitet habe. Was mir an der Idee einer Zugfahrt prinzipiell so gefällt, ist diese allmähliche Veränderung der Landschaft, während man beim Flugzeug einfach aussteigt und da ist. Ein Zug als Handlungsort eines Buches hat auch etwas von einem Kammerspiel, was ich ebenfalls sehr interessant finde“, erklärt Pöll. „Die Krimfahrt“ ist nach „Der Schoßhunddestruktor“ und „Die Elefanten meines Bruders“ sein dritter Roman, der bei Amazon CreateSpace im Selbstverlag erschienen war. Derzeit arbeitet der 52-Jährige an seinem nächsten Buch, schreibt zudem für die Satire-Zeitschrift „Herbst“. 2007 gründete er die Satire-Plattform „Palastrevolution“, im Jahr 2014 das Bücherforum „whatchareadin.de“.
Ein großes Dankeschön geht an alle Blogbuster-Teilnehmer, die mir ihre Exposés und Leseproben zum Lesen gegeben und damit ihr Vertrauen ausgesprochen haben. Das waren Rose Kleinknecht-Herrmann mit „Frust, Revolte und Normalität – Die Leiden des Lehrers Wolfgang Fink“, Philip Klein mit „Hallo, Sonnenschein!“, Philipp Brotz „Das erste und zweite Leben der Sophie Janusz“, Dorrit Bartel mit „Aus Mangel an Vertrauen“ sowie Martin Kreiter mit „Falkenjagd“. Ich wünsche Helmut Pöll alles Gute für die weitere „Fahrt“ mit Blogbuster, oder wie man im Russischen sagt: Приятной поездки
Die Longlist-Kandidaten der weiteren Blogger:
Katharina Herrmann „Kulturgeschwätz“ – Lukas Vering „Air“
Sophie Weigand „Literaturen“ – Doris Brockmann „In Bhutan steckt Hut“
Gerrit ter Horst und Tabitha van Hauten „Zeilensprünge“ – Chrizzi Heinen „Das schwarze Loch“
Mareike Fallwickl „Bücherwurmloch“ – Heike Duken „Rabenkinder“
Uwe Kalkowski „Kaffeehaussitzer“ – Gunnar Kaiser „Unter der Haut“
Ilja Regier „Muromez“ – Micaela Daschek „Polareule“
Petra Lux „Die Liebe zu den Büchern“ – Katharina Radtke „Schneestolz“
Gérard Otremba „Sounds & Books“ – Ina Elbracht „Sie nannten mich den Mann mit den Goldenen Schuhen“
Sarah Reul „Pinkfisch.net“ – Brigitte Morgenroth „Hundeseele“
Sandro Abbate „novelero“ – Stefan Zett „Das Magenkomplott“
Sonja Graus „Lust zu lesen“ – Kai Wieland „Ameehrikah“
Tilman Winterling „54books“ – Torsten Seifert „Der Schatten des Unsichtbaren“
Birgit Böllinger „Sätze & Schätze“ – Daniel Faßbender „Die weltbeste Geschichte vom Fallen“
Foto: pixabay
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