Geheimnisse – Lukas Hartmann „Auf beiden Seiten“

„Alles bleibt Fragment, erschwindelt, ein Seiltanz von Bild zu Bild.“

Als die DDR 1989/1990 mit dem Mauerfall und der friedlichen politischen Wende ihrem Ende zuging, konnte wohl noch keiner erahnen, welches Ausmaß und welche Bedeutung das Ministerium für Staatssicherheit, im Volksmund Stasi genannt, besaß. Womöglich wussten dies nur jene, die direkt oder indirekt mit der „Krake“ zu tun hatten. Doch nicht nur die DDR verfügte über eine spezielle Struktur zum Schutze des Staates. In der Schweiz gab es seit dem Ende der 70er Jahre mit der P 26 eine, nur wenigen Menschen bekannte Organisation, die, aus der Schweizer Armee heraus entstanden, andere beschattete und wenn nötig politisch wie militärisch aktiv werden konnte. Von ihr erzählt der 2015 erschienene Roman „Auf beiden Seiten“ des Schweizers Lukas Hartmann. 

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Die Zahl „26“ in der Bezeichnung verweist dabei auf die Anzahl der Kantone in der Schweiz. Die Geheimorganisation sollte dann aktiv werden, wenn dem Land eine Invasion aus dem kommunistischen Osten und eine Unterwanderung gedroht hätte. Ihre Mitglieder, sowohl Frauen als auch Männer, die in ihrem bekannten Leben ihren meist normalen Berufen nachgegangen sind, hatten sich mit Manövern auf den Ernstfall und den Widerstand vorbereitet. In seinem Roman erzählt Hartmann von Dr. Armand Gruber, der als Deutschlehrer an einem Gymnasium lehrt und im Geheimen der Kader-Truppe angehört. Grubers Aktivitäten sind nicht einmal seiner Familie bekannt.

Zu seinen Schülern zählt Mario Sturzenegger, der später Grubers Tochter Bettina heiraten soll. Mario galt als Grubers Hoffnungsträger. Doch während der Lehrer politisch wie literarisch eher konservativ geprägt ist und diese Haltung hartnäckig und fordernd vertritt, findet sein Schützling vielmehr den Zugang zu linken Strömungen. Er wird später Journalist, will mit seinen Texten über die Ungerechtigkeiten in der Welt aufklären. Er reist unter anderem in den Tschad, erlebt dort Armut und Hoffnungslosigkeit. Zuvor hat er für eine Reportage die DDR besucht, wird dort Zeuge von Überwachung und Verfall. Doch sein Stern ist am Sinken: beruflich wie privat. Als Redakteur einer linken Tageszeitung wird er nach und nach herabgesetzt. Schließlich arbeitet er als freier Mitarbeiter für eine Familienzeitschrift. Seine Ehe mit Bettina wird geschieden, seine beiden Kinder Fabian und Julia sieht er nur sporadisch.

„Ich lebte im Auge des Orkans und hatte auch davon keine Ahnung, bloß dieses dumpfe Unbehagen tief in mir. Es gab also die Fichen, und dazu gab es die Funkgeräte für die P-26-Getreuen, es gab die Waffen, die sie in Erdlöchern verstecken mussten, es gab die Anweisungen für einen Putsch, falls die Linken bei uns die Macht übernehmen sollten. Sie übten Sabotageakte, sie übten in Schießkellern, sie zogen sich in Ausbildungsbunkern Masken über den Kopf, damit sie einander draußen nicht erkennen würden.“

Hartmann schlägt zeitlich einen weiten Bogen, ohne seine Geschichte linear und chronologisch aufzubauen. Dieser Zeitrahmen reicht von Marios Jugend, der einst engen Verbindung zu Gruber, bis in die jüngste Vergangenheit, als das Wirken der Geheimorganisation öffentlich bekannt wurde. Mario, Gruber und Karina, Tochter des Hausmeisters beim Nachrichtendienst, Bettinas beste Freundin und später kurzzeitig Geliebte Marios, erzählen das Geschehen aus ihrem persönlichen Blickwinkel heraus und stilistisch sehr verschieden. Das lässt ohne Frage Spannung entstehen. Doch manches Mal zweifele ich, ob es diesem Roman mit seinem recht überschaubaren Umfang gut getan hat, so viele verschiedene Themen gleichzeitig zu verarbeiten. Ich hätte mir noch mehr Szenen und eine eher ausführlichere Beschäftigung mit der Geheimorganisation gewünscht. So ist „Auf beiden Seiten“ vieles: sowohl Familiengeschichte und Spionage-Thriller als auch Porträt eines engagierten Journalisten, der oftmals sein Scheitern erleben muss. Auch Adalbert Stifter (1805 – 1868) wird vielfach erwähnt: Gruber gilt als Experte zum Leben und Wirken des österreichischen Schriftstellers, sein großer Wunsch war es, eine Biografie über Stifter zu schreiben. Am Ende erleidet Gruber, der im Alter an Demenz erkrankt, ein ähnlich tragisches wie selbst gewähltes Schicksal.

Trotz dieser Fülle an Fakten und Themen erweist sich Hartmann als bravouröser Erzähler, den ich mit der Lektüre von „Bis ans Ende der Meere“  über die Reise des Malers John Webber an der Seite des englischen Entdeckers James Cook  sowie mit „Finsteres Glück“ über das Schicksal eines Jungen sehr schätzen gelernt habe. Auch in „Auf beiden Seiten“ verbindet er spezielle Ereignisse,  real wie fiktiv, zu einer besonderen Geschichte. Als Kind der DDR habe ich natürlich mit kritischem Blick auf die betreffenden Szenen geschaut und war erstaunt, wie Hartmann es gelingt, die Stimmung und den Zustand in den letzten Jahren des Landes treffend einzufangen. Nur an einer Stelle habe ich etwas mit dem Kopf geschüttelt: Auf den Kauf eines Trabant musste man nicht nur zwei Jahre warten. Die Wartezeit lag in vielen Fällen im zweistelligen Bereich.

Wer „Auf beiden Seiten“ liest, erlebt einen Roman, der nicht nur ein nahezu unbekanntes Kapitel der Schweiz offen legt und so literarisch verarbeitet. Das Buch erzählt auch von den Geheimnissen der Menschen sowie von ihren Träumen und Wünschen, die oftmals solche geblieben sind. Viel Stoff zum Nachdenken also.


Lukas Hartmann: „Auf beiden Seiten“, erschienen im Diogenes Verlag; 336 Seiten, 23,90 Euro

Foto: pixabay

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