„Seit drei Generationen hatte seine Familie diese Fassade im Blick. Sauber, beständig, leblos.“
Amerika wurde über Jahrhunderte für unzählige jüdische Familien zu einer zweiten Heimat. Sei es, um der Armut zu entfliehen, sei es, um den Pogromen und Verfolgungen zu entkommen. Heute leben schätzungsweise acht Millionen Juden in den USA. Amos Grossmanns Großeltern Charlotte und Markus gelingt es, untergetaucht in Amsterdam, nahezu unbeschadet das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg zu überstehen und am Ende des Krieges in die USA zu emigrieren. Was der Enkel der vermögenden Familie allerdings zuerst nicht weiß, ist, dass ihre Flucht noch einen ganz anderen Grund hat.
Paul Baeten Gronda erzählt in seinem Roman „Straus Park“ von einem dunklen Geheimnis, das die Geschichte der Familie Grossmann fortan beeinflusst. Wenn auf den ersten Blick im eher positiven Sinne. Denn die Familie ist reich, sehr reich, vermögend durch den Kunsthandel. So können Amos und seine zwei Brüder Noah und Jacob ihr Leben gestalten, wie sie wollen. Der eine eröffnet eine Fahrrad-Werkstatt, der andere investiert in moderne Kunst – mehr oder weniger erfolgreich. Amos stolpert indes durch sein Leben. Ohne Ziele, Wünsche und Träume. Nach einer Europa-Reise bricht er sein Studium der Kunstgeschichte kurzerhand ab, lebt zurückgezogen im Elternhaus, einer großen Villa mit Blick auf den Straus Park in Manhattan. Er heiratet mit Farren eine Tochter aus ebenfalls sehr gutem Haus, weil er glaubt, sie zu lieben. Wenig später stürzt er sich in eine leidenschaftliche Affäre mit der älteren, aber sehr erfolgreichen Immobilien-Maklerin Alison. Zu seiner kleinen Tochter kann er kein normales Vater-Kind-Verhältnis aufbauen, andere Männer in Farrens Leben begegnet er mit Eifersucht und Gewalt. Einen verprügelt er gar mit einer Sirup-Flasche. Sein zielloses wie maßloses Treiben begleitet auch ein Therapeut, den Amos regelmäßig aufsucht.
Eines Tages tritt Julie Dune, eine junge Engländerin und Doktorandin der Kunstgeschichte, in sein Leben. Sie forscht für ihre Doktorarbeit nach europäischer Kunst und Antiquitäten im Besitz amerikanischer Familien. Amos verliebt sich in sie, obwohl sie verlobt ist. Was er noch nicht weiß, ist, dass ihre beiden Familiengeschichten miteinander verwoben sind.
Nach und nach entschlüsselt Gronda das Geheimnis um die Grossmanns, das schließlich auch der Grund ist, warum Amos seine Lebenszeit vergeudet. Der flämische Autor, der 1981 in Belgien geboren wurde, lässt den Erzähler in zwei verschiedenen Strängen berichten, die in der jüngsten Vergangenheit und in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts verankert sind. Der Leser lernt so auch Amos‘ Großeltern kennen, die mit Beginn des Dritten Reichs aus ihrer Heimat Brandenburg nach Amsterdam geflohen sind und sich dort, ausgestattet mit falschen Papieren, versteckt halten. Während Markus, ein Arzt, komplett untertaucht, sucht seine Frau Charlotte den Kontakt zur Bevölkerung und auch zu den Deutschen, die die Niederlanden besetzt haben.
„Ich meine nur, man könnte sagen, dass es ihr Prestige war, nicht meines. Geerbtes Prestige scheint mir alles andere als ruhmvoll, es ist eher eine viel zu große, nasse Jacke an einem frostigen Tag, verstehst du, was ich meine?“
Gronda macht es dem Leser zu Beginn indes nicht leicht. Zum einen zeichnet er seinen Helden Amos so, dass man ihn nicht unbedingt mag. Er ist reich, wirkt überheblich und exzentrisch, ohne Ambitionen verschleudert er das Geld der Familie. Zum anderen erscheint der Anfang des Buches, als ob kleine Puzzle-Teile fehlen, als ob bei einem Film Szenen herausgeschnitten sind. Man gewinnt den Eindruck, die Handlung ruckelt oder hastet. Fast hätte ich das Buch wieder zur Seite gelegt. Doch wer die ersten Seiten „überstanden“ hat, wird mit der folgenden Lektüre belohnt. Denn die Ereignisse überschlagen sich, ein Sog entsteht, der den Leser in einen Bann und in das folgende Geschehen zieht: Ein tragischer Unfall überschattet die Familie, Amos lernt einige Zeit später Julie kennen, der er verfällt, so dass er auch die Beziehung zu Alison aufgibt. Die Geschichte der Großeltern und das Familiengeheimnis, in der die Großmutter eine unrühmliche Rolle spielt, wird eindrucksvoll geschildert. Die beklemmende Atmosphäre in jener Zeit, angesichts des Krieges und der Gewalt der Besatzer, sowie die Angst der Juden um ihr Leben werden spürbar. Denn das grauenhafte Schicksal der verhafteten Juden, die Züge, die in Richtung Auschwitz fuhren, waren nahezu jedem bekannt. Und nicht wenige haben dieses Verbrechen mit Kollaboration und Verrat unterstützt.
Gleichzeitig gelingt es Gronda, Amos‘ Gedanken und Gefühle, Ängste und Hoffnungen glaubwürdig zu schildern und dem Charakter des Helden somit psychologische Tiefe zu verleihen. Mit der Zeit, Kapitel für Kapitel gewinnt er zunehmend Sympathie-Punkte, weil ein erster Eindruck eben auch nicht immer der richtige ist. Das Ende des Buches, das erzählt, wie Familiengeschichte bis in die jüngeren Generationen wirkt, entsetzt und macht betroffen. Ein Happy End als Krönung einer für nahezu alle Personen des Buches positiven Entwicklung lässt der Autor nicht zu. „Straus Park“ ist großes erzählerisches Kino mit schönen wie tragischen Überraschungen, das im Kopf und im Herz bleibt.
P. B. Gronda: „Straus Park“, erschienen im Luchterhand Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas; 320 Seiten, 24,99 Euro
Foto: pixabay
Das klingt ja interessant …
Viele Grüße!
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Hallo liebe Constanze, Helden die einem eher unsympathisch sind, finde ich interessant. Wie es dazu kam, jemanden mit einer Sirup-Flasche zu verprügeln, würde mich interessieren, ebenso die Themen dieses Romans. Viele Grüße aus dem Norden
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