„Niemand kann aufgeben, bevor er Gewissheit hat.“
Obwohl dieses Bild, dieser Vergleich, in Skandinavien gibt es Krimi-Autoren wie Sand am Meer, etwas übertrieben scheint, liegt wohl auch ein Körnchen Wahrheit darin. Gefühlt besetzen Titel aus dem hohen Norden den überwiegenden Teil der Krimi-Auslagen in den Buchhandlungen. Und in regelmäßiger Beständigkeit erscheinen neue Namen, neue Romane. Mit „…und morgen werde ich dich vermissen“ betritt Heine Bakkeid die Bühne der Spannungsliteratur.
Ein kaputter Ermittler
In seiner Heimat ist Bakkeid schon seit Jahren für seine Jugendbücher bekannt und beliebt. Mit seinem neuesten Werk hat der Norweger ein Krimi-Debüt geschrieben und zugleich einen recht eigenwilligen Helden zum Leben erweckt; obwohl diese Beschreibung wohl eher noch schmeichelt. Thorkild Aske ist körperlich und seelisch ein Wrack. Der einstige Kommissar in der inneren Abteilung der Polizei und Verhörspezialist, vor einigen Jahren von seiner Frau geschieden, hat einige Zeit im Gefängnis und in der Psychiatrie zugebracht, ein Selbstmord-Versuch endete mit einem zerbrochenen Rohr in der Gemeinschaftsdusche der Justizvollzugsanstalt. Mit Unmengen an Tabletten, erbettelt und schließlich verschrieben von seinem Psychiater und Vertrauten Ulf, hält er sich über Wasser. Kurz nach seiner Entlassung ereilt ihn ein Ruf aus der Vergangenheit, von einem ihm bekannten Ehepaar. Aske soll Rasmus, den Sohn von Arne Willmyr und seiner Exfrau Anniken Moritzen in Nordnorwegen ausfindig machen, wo er als vermisst gilt. Willmyr ist zugleich der Onkel von Frei, einer jungen Frau, in die Aske einst verliebt war und die Opfer eines tragischen Verkehrsunfalls wurde.
Aus Stavanger im Süden Norwegens landet der Ex-Polizist im hohen Norden, nahe Tromsö. Hier begegnet er nach langen Zeit nicht nur seiner Schwester Liz, die unter den Gewaltattacken ihres Mannes zu leiden hat. Ein Wiedersehen mit Gunnar Ore, seinem ehemaligen Chef, entwickelt sich zu einem heftigen Streitgespräch, das Aske jedoch nicht von seinen Ermittlungen abbringt. Die führen ihn vor allem zu einem verlassenen Leuchtturm, den Rasmus wieder in ein Hotel, das es einst dort gegeben hat, zu verwandeln hoffte. Eine schrecklich zugerichtete Frauenleiche, die Aske vor Ort entdeckt und die von einem Taucher vor seinen Augen entwendet wird, lässt den früheren Kommissar bereits ahnen, dass hinter dem Verschwinden von Rasmus mehr als nur ein „Seeunglück“ steckt, wie viele in der Gegend meinen. Als auch noch der zuständige Lensmann und ein Polizist verschwinden, wird es immer mysteriöser und düsterer, nicht nur des Wetters wegen.
Hier ist außer uns niemand mehr, oder?‘, frage ich meinen Schatten im Spiegel heiser. Keine weiteren Thorkilds, die man hervorholen könnte, wenn die Dinge zu kompliziert werden oder die Gelegenheit günstig ist. Dieses grau gescheckte Knochengerüst ist alles, was noch von mir übrig ist.
Denn mit Merethe, der Frau von Harvey, einem Amerikaner mit norwegischen Wurzeln, der auf einer Farm im Meer Muscheln züchtet, gibt Bakkeid seinem Krimi-Erstling einen mystisch-esoterischen Anstrich, der auf den ersten Blick etwas befremdlich auf den Leser wirken könnte. Merethe ist ein Medium, sie kann wahrsagen und auch Kontakt zu Toten aufnehmen. In einer Behandlung, die Aske helfen soll, sich aber zu einer Séance entwickelt, geschieht etwas Unheilvolles. Es spricht für Bakkeid, dass er diese Szene und dieses Thema nicht weiter aufbauscht. Er setzt vielmehr seinen Fokus auf die nicht gerade sympathische, aber leicht schrullige Person Askes, der Parfüm trinkt und an fremden Orten nicht ohne seine Kaffeemaschine leben kann. Der Ausflug in den Norden zwingt ihn zu einer eigenen inneren Bestandsaufnahme. Seelisch zerbricht er am Tod Freis und seinen eigenen großen Schuldgefühlen, die ihn in Rückblicken und Erinnerungsszenen nicht loslassen wollen und ihn aufgrund seiner Todessehnsucht nahezu wieder an den Abgrund führen. Doch der neue Fall kitzelt an seiner Polizisten-Ehre. Aske verfolgt hartnäckig Spuren, die ihn fast erneut zurück in die Psychiatrie, aber schließlich zum Täter und dessen Motiv führen, von dem man sich wünscht, dass dieser ernste Hintergrund mehr Raum erhalten hätte.
Eindrucksvoller „Kulissenbauer“
Bakkeid schenkt indes noch einer weiteren, nicht-menschlichen Protagonistin viel Aufmerksamkeit: Auf beeindruckende, sehr atmosphärische Weise beschreibt der Norweger die herbe Umgebung Nordnorwegens, in der er selbst aufgewachsen ist. Das Meer, karge Felsen, Schnee, Nebel und Kälte sowie Scheunen, Leuchtturm, Boote und Trockenfischgestelle bilden im Zusammenspiel eine markante wie je nach Wetterlage abwechslungsreiche Kulisse, die wohl nicht für einen Reisekatalog taugen und nur von wahren Freunden des hohen Nordens als „reizend“ beschrieben werden. Der Roman, der vom Verlag als Thriller eingeordnet wird, erhält seine Tiefe durch das Zusammenwirken zwischen der Seelenlandschaft Askes und der Szenerie sowie durch Einblicke in die Verhörtaktiken der Polizei. Die Spannung entsteht durch die für Krimis recht ungewöhnliche Ich-Perspektive, die Wahl des Präsens als Erzähltempus – davon ausgenommen sind die Rückblenden – sowie ein optimales Verhältnis zwischen stillen und rasanten Szenen. „… und morgen werde ich dich vermissen“ ist der Auftakt für eine Reihe rund um den Ermittler Thorkild Aske. Man kann gespannt auf weitere Folgen sein, denn Bakkeid ist der Sprung in das Krimi-Fach durchaus auf beeindruckende Weise gelungen. Mit seinem düsteren Debüt und seinem kaputten Helden bereichert er die „Abteilung für Spannungsliteratur“.
Heine Bakkeid: „… und morgen werde ich dich vermissen“, erschienen im Rowohlt Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein; 416 Seiten, 14,99 Euro
Foto: pixabay
Genau solche kaputten Ermittlerfiguren sind es, die mir den Zugang zu den skandinavischen Krimis so sehr erschweren, weil sie eben in fast jedem Krimi auftauchen. Der einzige Unterschied dieser Ermittlerfigur hier ist, dass Aske noch kaputter zu sein scheint als die anderen. ;-)
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Da gebe ich Dir Recht, aber ich denke auch, dass die oft düstere Stimmung einige davon abhält, einen skandinavischen Krimi zur Hand zu nehmen. Dabei finde ich diese, gerade auch was gesellschaftliche Kritik angeht, herausragend und tiefgründig. Viele Grüße und vielen Dank für Deinen Kommentar
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