Flucht – Mooses Mentula „Nordlicht – Südlicht“

Es gibt Regionen und Völker auf der Welt, die finden sich nur in einer überschaubaren Anzahl an Romanen wieder. Der äußerste Norden Nordeuropas und das Leben der Samen zählen zweifellos zu den nahezu weißen Flecken auf der literarischen Landkarte beziehungsweise zu den eher „exotischen Protagonisten“. Der finnische Lehrer und Autor Mooses Mentula entführt in seinem Debütroman „Nordlicht – Südlicht“ den Leser nach Lappland, wo das Leben von Traditionen und Konflikten bestimmt wird.

Eine Begegnung mit Folgen

Allein der Titel der deutschen Ausgabe des Romans macht den Grundkonflikt deutlich, und schon mit der Eingangsszene in einer Bar nimmt die Auseinandersetzung ihren Lauf, ohne dass die beiden Streithähne, der Lehrer Jyri aus dem Süden und der samische Rentierzüchter Jouni, ahnen können, dass ihre erste Begegnung erst der Anfang einer Entwicklung ist, die beider Leben gehörig auf den Kopf stellen wird. Denn mit Jyri kommt nicht nur ein junger gebildeter Mann neu in die Stadt, er verkörpert all das, was Marianne, Jounis Frau, sich ersehnt. Obwohl sie vor einigen Jahren mit Überzeugung ihre Eltern im Süden des Landes und damit ihre Heimat zurückgelassen hat, um im Norden ihr Glück und die Liebe zu suchen, möchte sie nun dem einfachen Leben an der Seite eines „Waldmenschen“, der nur wenig verdient und regelmäßig bei der Bank um ein Darlehen bitten muss, und der kargen Einöde weit entfernt von Shopping-Malls und Kneipenmeile wieder entfliehen. Es kommt, was kommen muss. Der Lehrer und Marianne beginnen eine folgenreiche Affäre.

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Mittendrin in diesem Konflikt zwischen Norden und Süden, Land und Stadt und in einer Familie, die mit der Zeit von Streit und Kälte gezeichnet und zerrissen wird, steht Lenne, der Sohn von Marianne und Jouni. Der Junge wird unfreiwillig Zeuge der oftmals lautstarken Auseinandersetzungen zwischen seiner Mutter und seinem Vater und reagiert mit Verhaltensauffälligkeiten, die auch die Lehrer in der Schule bemerken, auf das veränderte Klima in der Familie, die ihm als Kind eigentlich Schutz geben sollte. Halt und Geborgenheit sucht sich Lenne im engen Verhältnis zum Vater, mit dem er erfolgreich an traditionellen Rentier-Wettkämpfen teilnimmt, sowie in einer besonderen Verwandlung: Lenne wird zum Rentierjungen, der dank magischer Kräfte als Superheld wieder alles zum Guten wenden kann. Eine kindliche Flucht, die im Gegensatz zu dem erhofften Ausbruch von Marianne keine Schmerzen verursacht und seelische Wunden reißt, sondern vielmehr einen spielerischen Charakter in sich trägt und zugleich offenbart, was der Jungen sich wünscht: eine intakte Familie und ein Zuhause, das er kennt und liebt.

„Er wollte gar nicht alles verstehen. Was einfach gewesen war, wurde verworren, wenn man anfing zu verstehen. Es wäre gut, wenn es nur Mama, Papa und Hund Vekku gäbe.“

Nicht nur diese berührenden Schilderungen aus der Perspektive des Kindes, die wohl auch auf die Erfahrungen des Autors als Lehrer zurückzuführen sind, machen diesen Roman zu einem sehr emotionalen Leseerlebnis. Mentula vermeidet jede Schuldzuweisung und überlässt dem Leser die Aufgabe, herauszufinden, welche Ursachen das Auseinanderbrechen der dreiköpfigen Familie, die nicht als einzige dieses Schicksal erleidet, bewirkt haben. Doch das ist alles andere als eine einfache Entscheidung. Denn der Finne erzählt noch eine weitere Familiengeschichte: Jyri, der um seine lappländischen Wurzeln weiß, sucht nach dem tragischen Tod seiner Mutter seinen ihm unbekannten Vater. Währenddessen spielt Jouni im „Kampf“ um seine Frau mit falschen Karten.

Aus verschiedenen Blickwinkeln

All diese Geschichten und Konflikte greifen ineinander, obwohl sich der Finne bei der Konstruktion seines Romans für einen eher szeneartigen Charakter entschieden hat. Dieser gibt ihm jedoch die Möglichkeit, diese komplexen Spannungen zwischen den Bewohnern des Nordens und des Südens und innerhalb der Familie sowie die oftmals mit Klischees behafteten Einstellungen aus verschiedenen Blickwinkeln und anhand verschiedener Situationen aufzuzeigen. Mentulas Erstling hält neben sehr viel Menschlichkeit und Melancholie einen dazu passenden stillen Humor bereit und erzählt sehr atmosphärisch über das abgeschiedene Leben zwischen Rentieren, Saunagängen und Polarlicht  in Lappland – das sehr viel Einsatz und Kraft von den Bewohnern fordert und damit den Respekt der anderen abverlangen sollte.

„Nordlicht – Südlicht“ erschien in deutscher Übersetzung 2014 und damit im Jahr, als Finnland Gastland der Frankfurter Buchmesse war, und zeigt sich in einer wundervollen Ausstattung mit zweifacher Einbandgestaltung, die vermutlich auf den Kontrast zwischen Moderne und Tradition anspielen soll. Das Debüt des Finnen, das von den vielen Facetten und Folgen von Sehnsucht, aber auch von der Kraft der Herkunft und der Beständigkeit erzählt, hat mich dann und wann an die stillen und intensiven Romane des Norwegers Per Petterson (erscheinen in deutscher Übersetzung im Hanser Verlag) erinnert. In Finnland ist im vergangenen Jahr bereits der zweite Roman Mentulas, der in Helsinki eine Schule leitet, erschienen. Eine deutsche Übersetzung wäre wünschenswert, weil großartige Literatur aus Skandinavien auch hierzulande ein literarisches Zuhause haben sollte.

Weitere Besprechungen des Romans gibt es auf den Blogs „masuko13“,  „Wortspiele“ und „poetenladen“.


Mooses Mentula: „Nordlicht – Südlicht“, erschienen im Weidle Verlag, in der Übersetzung aus dem Finnischen von Antje Mortzfeldt; 264 Seiten, 23 Euro

Foto: pixabay

2 Kommentare zu „Flucht – Mooses Mentula „Nordlicht – Südlicht“

  1. Wie schön, dass nach drei Jahren nun noch einmal eine Rezension kommt und dass Sie sich so engagiert für Literatur aus Finnland aussprechen! Eine kleine Korrektur: Mein Name schreibt sich Mortzfeldt. Herzlichen Gruß von der Übersetzerin!

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  2. Vielen Dank für Ihren lieben Kommentar. Ich werde Ihren Namen sogleich korrigieren. Ich hoffe, dieses Buch findet noch viele Leser. Neben finnischer Literatur bin ich der Literatur des Nordens sehr verbunden. Allgemein würde ich mir wünschen, dass sie über das Krimi-Genre hinaus mehr gelesen würde. Herzliche Grüße zurück

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