„Alles hat mit allem zu tun.“
Es kann schon erschreckend sein, wenn in Deutschland innerhalb eines Jahres zwei Romane erscheinen, die in die Zukunft der USA blicken und eine unheilvolle, ja düstere Zeit beschreiben. Erzählt Omar El Akkad in seinem Roman „American War“ von Krieg und Zerstörung, Hass und Terrorismus, wendet sich die amerikanische Autorin Lionel Shriver einem ganz anderen Thema zu: dem Verfall des Dollars, Inflation und damit dem Abstieg weiter Teile der amerikanischen Bevölkerung.
Bereits mit ihrem preisgekrönten Erfolgsroman „Wir müssen über Kevin reden“ über einen jugendlichen Amokläufer und den Auswirkungen seiner entsetzlichen Tat auf dessen Familie beschreibt sie ein sehr ernstes Thema, das regelmäßig in den Nachrichten auftaucht und für Entsetzen sorgt. In ihrem aktuellen Buch blickt sie nur wenige Jahrzehnte unserer Zeit voraus und entwirft eine Vision, die wohl keineswegs so abwegig ist, sondern durchaus Realität werden könnte. Das Wasser wird knapp, vor wenigen Jahren zuvor hat ein Stromausfall das Land lahm gelegt, es kam zu Plünderungen. Hacker sorgten für das Aus des Internethandels, was wohl all jene durchaus erfreuen wird, die die Web-Krake Amazon nicht so sehr mögen. Doch bereits dieses erste Warnzeichen – im Übrigen „Steini“ für „Steinzeit“ genannt und nur wenige Jahre zuvor geschehen – bringt das Land nicht zur Besinnung.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht die weitverzweigte Familie Mandible. Florence, Mitarbeiterin in einem Heim für Obdachlose, wohnt mit ihrem Sohn Willing und ihrem mexikanisch-stämmigen Lebensgefährten Esteban in New York, ihre Schwester Avery, mit einem renommierten Wirtschaftswissenschaftler und Inflationsexperten verheiratet, in Washington. Zur Familie gehören auch deren Eltern Carter und Jayne sowie der hochbetagte Großvater Douglas nebst seiner demenzkranken Frau, die beide in einem luxuriösen Seniorenheim leben.
Sie alle haben ein gutes Leben – bis der Dollarkurs rapide einbricht, die Hyper-Inflation ihren Lauf nimmt, der Staat auf Erlass des Präsidenten – im Übrigen ein Latino – das Gold in Privatbesitz einkassiert, sich gegen andere Länder scharf abgrenzt, die eine eigene gemeinsame Reserve-Währung erschaffen haben. Geld ins Ausland zu bringen, wird unter Strafe gesetzt. Mit furchtbaren Folgen für Land und Leute: Jobs gehen verloren, Spareinlagen werden vernichtet, Lebensmittel und Energie nahezu unbezahlbar. Die Infrastruktur bricht zusammen, die Polizei wird der Kriminalität nicht mehr Herr. Die Selbstmord-Rate steigt, ebenso die Zahl der Obdachlosen, die auf den Straßen und in den Parks in Gruppen campieren.
Diese schleichende Krise ohne Aussicht auf bessere Zeiten bringt jedoch die Familie zusammen: Denn sowohl Avery mit Mann und drei Kindern als auch Eltern und Großeltern suchen Zuflucht unter dem Dach von Florence und Esteban. Selbst die schon seit Jahren in Paris lebende Tante, eine schräge Schriftstellerin, zwängt sich noch in das Haus. Die verschiedenen Generationen nebst einem schrulligen Untermieter müssen zusammenleben, ob sie wollen oder nicht und sie aufgrund ihrer verschiedenen Charaktere häufiger aneinandergeraten. Doch die Auseinandersetzungen um Toiletten-Papier, die Wasserreserve und unsinnige Hamsterkäufe sind noch längst nicht die härtesten Bewährungsproben: Die Mandibles werde eines Tages vor die eigene Tür gesetzt, als eine andere Familie das Haus mit Waffengewalt erobert. Kann die weit entfernte Farm von Florence‘ Bruder Jarred die Rettung sein?
„Aber es gab eindeutig noch eine unheilvollere Situation, als in einem Land zu leben, in dem auch der Rest der Welt leben wollte, nämlich in einem Land zu leben, aus dem alle hinauswollten.“
Shriver erschafft ihre Vision vor allem mit zahlreichen Hinweisen, Andeutungen und ja auch Schockmomenten, die sich nicht nur auf die USA beziehen, sondern die Welt vollkommen verwandelt beschreiben. China hat sich zur Wirtschaftsmacht Nummer eins entwickelt und greift eines Tages Japan an. Der Euro hat ebenfalls einen Crash-Kurs hinter sich. Nord- und Südkorea haben sich vereint. Das Absterben der Arabica-Pflanze hat den Kaffeepreis in die Höhe getrieben, das begehrte Getränk in all seinen Variationen gilt als Luxus. Gedruckte Bücher und Zeitungen gibt es nicht mehr, manche Menschen können nicht mehr lesen. In Afrika werden keine Safaris mehr veranstaltet aufgrund des Mangels an Tieren.
Das Bild der USA als einst große Nation und politische wie wirtschaftliche Weltmacht bekommt in Shrivers Zukunftsblick nicht nur einige tiefe Kratzer. Das Land ist vollkommen am Boden – und zudem gespalten, denn Nevada im Westen hat sich zu einem eigenständigen Staat erklärt und wird am Ende des Buches eine nicht unbedeutende Rolle einnehmen. Vor allem der Mittelstand und die Reichen haben ihre sichere Existenz verloren. Der Flüchtlingsstrom verläuft nicht mehr von Süd nach Nord, sondern in die nun andere Richtung, so dass Mexico die Grenze verstärkt. Wer überleben will, muss sich mit wenig zufrieden geben, vielleicht sogar gesetzliche Grenzen überschreiten. Deutlich wird dies vor allem in der Person von Florence‘ Sohn, der wohl die herausragende Gestalt des Romans ist und die Familie über Wasser hält. Mit Wissen, Einsatz und manch Skrupellosigkeit.
Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „LiteraturReich“, „letteratura“ und „Sätze & Schätze“.
Lionel Shriver: „Eine amerikanische Familie“, erschienen im Piper Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence, 496 Seiten, 24 Euro
Foto: pixabay
Schöne Besprechung! Ich bin grad mittendrin. Ich glaube, es gab noch nichts von Shriver, das ich nicht mochte. Ich halte sie für eine sehr talentierte Autorin, diese Geschichte ist aber wirklich so beklemmend, dass ich immer wieder Pausen brauche. Spricht aber letztlich wieder für das Buch, denn genauso ist es ja…
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thurs fand sie auch gut … legte sie mir ans Herz, aber ich weiß nicht … mal sehen, vllt. lese ich es doch. LG
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Also, zwei Empfehlungen sprechen doch für sich, oder? Viele Grüße zurück
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Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich fand die Handlung ebenfalls sehr beklemmend, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass ihre Vision durchaus real erscheint. Viele Grüße und weiterhin eine gute Lektüre
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Habe den Roman jetzt beendet. Es war keine Wohlfühllektüre, aber das sollte es ja auch nicht sein. Sie macht das sehr gut, wie sie das Szenario entwickelt und ihre Figuren darin agieren lässt. Shriver ist wirklich eine gute Autorin.
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Hallo Constanze,
ich bin nicht im dieses Buch hinein gekommen. Mancher Aspekt war mir zu abgehoben oder ein Ticket zu stark weiter entwickelt. Vor allem haben mir die gaben ökonomischen Dialoge den Rest gegeben und ich musste abbrechen.
Da empfand ich Jürgen Bauers Roman „Ein guter Mensch“ als das bessere Zukunftsszenario, welches ja gerade im Südafrika schneller Realität wird als einem lieb ist.
Liebe Grüße
Marc
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