„Am innersten Punkt der Geborgenheit wohnen.“
Er galt schon zu Lebzeiten als Legende und konnte sich mit seinen Werken wie „Fanny und Alexander“ oder „Szenen einer Ehe“ in der Filmgeschichte verewigen: Am 14. Juli wäre der schwedische Regisseur Ingmar Bergman 100 Jahre alt geworden. Der Film und das Theater waren seine großen Leidenschaften. Die Liste der Preise, mit denen er geehrt wurde, ist lang. Er erhielt sowohl den Oscar als auch die renommierten Auszeichnungen bekannter Filmfestspiele, wie Cannes, Berlin und Venedig. Seine Tochter Linn Ullman zeichnet in ihrem autobiografischen Roman „Die Unruhigen“ Bergman vor allem als Privatmensch und Vater – auf eine faszinierende und ergreifende Weise.
Tonaufnahmen als Grundlage
Dabei ist dieses Buch, das passend im Gedenkjahr nun in deutscher Übersetzung vorliegt, nicht das ureigenste Werk der bekannten norwegischen Schriftstellerin und Tochter der Schauspielerin Liv Ullmann, sondern eher ein Vermächtnis. Gemeinsam mit ihrem berühmten Vater fasste sie einst den Beschluss, ein gemeinsames Buch über das Altern zu schreiben. Sechs Tonband-Aufnahmen, die wenige Wochen vor dem Tod Bergmans entstanden sind, bilden eine Art Gerüst. Tochter und Vater führen Gespräche, sogenannte Sitzungen, zu den verschiedensten Themen. Doch erst Jahre nach diesen Aufnahmen stieß Ullmann wieder auf das Gerät und arbeitete die Tondokumente auf. Dabei bildet die Niederschrift der Dialoge nur einen geringen Teil des Romans, wenn auch einen wichtigen weil authentischen, fühlt der Leser doch besonders hier die enge emotionale Bindung zwischen Vater und Tochter; obwohl bekanntlich Bergman insgesamt sechs Beziehungen, darunter fünf Ehen führte und Vater von neun Kindern war. Erstaunlich ist dabei auch, dass in dieser Patchwork-Familie, die sich regelmäßig auf dem Familiensitz auf der schwedischen Insel Fårö nahe Gotland eingefunden hat, scheinbar nie Groll zu spüren war.
Den überwiegenden Teil machen die Erinnerungen Ullmanns aus, die allerdings eine besondere literarische Verarbeitung erfahren haben. Sie werden nicht nur nicht linear erzählt, sondern in regelmäßigen Zeitsprüngen. Auch werden die Namen von Vater, Mutter und Tochter nie beim vollen Namen erwähnt, sondern nur in der Art ihrer Beziehung: also eben als Mutter, Vater etc. Es entstehen damit ein gewisser Abstand zwischen den damaligen Ereignissen und der Autorin sowie eine kühle Sachlichkeit, ohne dass die unterschiedlichen, jedoch stets intensiven Bindungen innerhalb des Dreigestirns verwischen.
Als Schauplatz steht dabei vor allem Hammars, jener Familiensitz, den Bergman Ende der 1960er errichten und nach und nach ausbauen ließ, im Mittelpunkt. Heute betreibt eine norwegische Stiftung das großzügige Areal als Kulturzentrum. Für Linn Ullmann war Hammars immer mit den Ferien verbunden, in denen sie den Vater besuchte, mit dem sie oft im eigenen Hauskino Filme ansah. Jeden Sommer lag ein Zettel mit herzlichen Worten der Begrüßung auf dem Tisch, in dem die jüngste Tochter liebevoll angesprochen wird. Diese Zeit an der Seite des Vaters war ein beständiger Fixpunkt in einem sonst eher unruhigen Leben zwischen zwei Elternteilen, die selbst ein bewegtes Leben geführt und sich nach wenigen Jahren der Beziehung wieder getrennt haben, doch im Kontakt blieben: Mit der Mutter Liv zieht die Tochter oft um, innerhalb Oslos und mehrfach nach Amerika. Was Ullmann bereits als Kind immer wieder gequält hat, ist die furchtbare Angst, die Eltern zu verlieren.
„Ich betrachte die Fotografien meiner Eltern und frage mich, wer sie sind und waren, trage ich sie in mir, bekamen sie Antworten auf einiges von all dem, was sie sich fragten, fühlten sie, dass ihnen die Zeit davonlief, wie sie mir davonläuft?“
Ullmann beschreibt ihren Vater nie als eine Überfigur. Vielmehr wird er in diesem Roman in seinen persönlichen Eigenschaften porträtiert: als Künstler, für den Theater, Film und Musik alles bedeutet haben, als Workaholic, der sich oft und viel in das Arbeitszimmer zurückgezogen hat, der für seine Arbeit schier gebrannt hat, und dem später als betagter Mann diese intensive kreative Beschäftigung mit Kollegen nahezu schmerzhaft gefehlt hat. Doch trotz dieser Umtriebigkeit nimmt er sich Zeit für seine große Familie, die vielen Kinder, die sein Leben ebenso reich gemacht haben wie seine Filme und Theaterinszenierungen.
Altern und Vergänglichkeit
Letztlich wird das Altern, der drastische Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten, die letzten Jahre und Monate Bergmanns bestimmen. Er zieht sich vollkommen zurück auf Hammars, vor allem der Tod seiner letzten Frau Ingrid hat ihn erschüttert, wie Ullmann mehrmals schreibt. So ist Redundanz eines der Stilmerkmale. So wie bekanntlich jeder seine persönliche Erinnerungen wieder und wieder hervorholt, im Gedankenstrom wendet, neu beleuchtet, so erzählt Ullmann mehrfach in fragmentarischer Art und Weise von besonderen Ereignissen, Szenen und Anekdoten. Die Vergänglichkeit, das Ende des Lebens und der Abschied, die Rückschau auf das Erreichte, aber auch das Verlorene beschreibt sie in einer berührenden Emotionalität und Tiefe. Auch der Altersunterschied zwischen ihrem Vater und ihr von 48 Jahren beschäftigt sie oft.
Linn Ullmann: „Die Unruhigen“, erschienen im Verlag Luchterhand, in der Übersetzung aus dem Norwegen von Paul Berf; 416 Seiten, 22 Euro
Foto: pixabay
Liv Ullmann habe ich in den 80er-Jahren in einigen Filmen gesehen, aber präsent ist sie mir nur noch aus „Szenen einer Ehe“ – ein toller Film.
Du hast mir richtig Lust auf das Buch gemacht , Constanze. Danke.
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Das freut mich, dass ich Deine Interesse wecken konnte. Sehr gern geschehen, liebe Anne-Marit. Viele Grüße
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Der Titel rührt von Pessoas „Buch der Unruhe“ her! Das macht es ja noch interessanter.
Viele Grüße!
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Ich wünsche Dir baldige Lektüre und viel Freude mit dem Buch. Viele Grüße nach Berlin
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