Jan Brokken „Sibirische Sommer mit Dostojewski“

„Schreiben sei sein Schicksal.“

Sicherlich stehen in den meisten gut gefüllten und gut sortierten Bücherregalen  wenigstens eines seiner Werke. Vielleicht „Schuld und Sühne“, „Die Brüder Karamasow“ oder „Der Idiot“, vielleicht auch alle hübsch nebeneinander. Die russische Literaturgeschichte wäre wohl ohne seinen Namen und seine weltliterarischen Werke um einiges ärmer: Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 – 1881) zählt zu den bedeutendsten Autoren seines Landes. Doch nur wenige wissen, dass seine schriftstellerische Karriere bereits an ihrem Beginn nahezu ein Ende hätte finden können und dass ein Mann und die gemeinsame Freundschaft ihn beflügelt haben. Über die Verbindung zwischen dem später weltberühmten Autor und dem Juristen und Diplomaten Alexander Jegorowitsch Freiherr von Wrangel (1833 – 1915) hat der Niederländer Jan Brokken ein wundervolles Buch geschrieben, das den Leser ungemein bereichert.

Straflager, später Militärdienst

Als Mitglied des revolutionären Petraschweski-Zirkels wird Dostojewski im April 1849 verhaftet, später zum Tode verurteilt. Nach einer Scheinhinrichtung in St. Petersburg, die von Wrangel, damals Schüler am Lyzeum, als Zeuge beobachtet, wird er als politischer Häftling nach Sibirien in das Arbeitslager nahe Omsk gebracht. Der Autor, der bereits mit seinen Briefroman „Arme Leute“ (1846) auf ein positives Echo gestoßen war und in literarischen Kreisen bekannt wurde, leidet nicht nur unter den menschenunwürdigen Zuständen, sondern auch unter dem Publikationsverbot, das auch nicht aufgehoben wird, als er in der kasachischen Stadt Semipalatinsk seinen Zwangsdienst in der Armee  antritt. Dort macht er die Bekanntschaft mit von Wrangel, der seine ersten beruflichen Erfahrungen als Jurist sammelt. Beide Männer werden zu Freunden und verbringen viel Zeit miteinander. Sie lesen gemeinsam Zeitung, rauchen, trinken Tee, pflegen einen Kosaken-Garten, den sich von Wrangel als Ausgleich zum Stadtleben genommen hat.

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Vieles verbindet die Männer – trotz ihres Altersunterschiedes. Beide haben sehr früh ihre Mutter verloren, stammen aus Adelsfamilien und waren in Sibirien mehrere Tausend Kilometer von ihrer Heimat und ihrer Familie entfernt. Beide mochten es, sowohl über Politik, Literatur und Kultur als auch über die bösen Seiten des Menschen zu diskutieren. Und beide sind jeweils einer Frau verfallen, die bereits vergeben ist:  Dostojewski liebt Marija Issajewas, von Wrangel Katja, die Frau des Bergbauingenieurs Gerngross. Die Höhen und Tiefen dieser Liebesbeziehungen, die nur für den Schriftsteller schließlich in eine Heirat mündet, nehmen einen breiten, einen nahezu zu ausführlichen Raum in diesem Roman ein, der Prosa und die literarische Form der Biografie auf eindrucksvolle Art vermischt.

Aufwendige Recherche

Briefe aus der Feder beider Freunde, die damit erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden, bilden dabei eine wichtige Grundlage für dieses thematisch weit gefächerte Werk. Aber auch auf Memoiren und Biografien griff Brokken zurück. So lernte er, wie er in einem Nachwort berichtet, mit Karin Beernink von Wrangels Ururenkelin kennen. Für seine aufwendige Recherche reiste der Niederländer nach Russland. Zudem gaben das Dostojewski-Museum in St. Petersburg sowie die in Dresden lebende Literaturwissenschaftlerin Olga Großmann wichtige Unterstützung. In der sächsischen Landeshauptstadt hat von Wrangel nach seinem Tod seine letzte Ruhe gefunden. In erklärenden Fußnoten am Abschluss des Bandes werden besondere Fakten erklärt oder ergänzt.

„Wir hatten einander unsere Seelen geöffnet, wir hatten einander verstanden, weil wir beide unsere Familie, unsere Freunde, unser Petersburg und alles, was uns lieb und teuer war, hatten zurücklassen müssen. Das isolierte Dasein war nur deshalb erträglich geworden, weil wir Unterstützung beim anderen gefunden haben.“

„Sibirische Sommer mit Dostojewski“ erzählt aus dem Blickwinkel von Wrangels von zwei faszinierenden wie erfolgreichen Männern und deren Persönlichkeit, ihre Stärken und Schwächen. Dostojewski – der manische, ständig von Geldnot getriebene Schreiber und intensive Menschen-Beobachter, dessen Umfeld und erlebte Ereignisse wichtige Quellen und Inspiration für seine Werke werden; von Wrangel – der die Welt und die Naturwissenschaften liebt und vor allem die weißen Flecken bereisen will. Doch das Buch erweist sich auch als ein facettenreiches Porträt Sibiriens, jene riesige, oft auch menschenleere wilde Region, die von ihrer ungeheuren Landschaft, ihren reichen Bodenschätzen, aber auch von den düsteren Orten der Straflager gezeichnet ist. Brokken berichtet von der Weite des Landes, von Wäldern, breiten Flüssen und Steppen, von ihren Bewohnern, die unterschiedlicher Herkunft, unter anderem Kosaken, Kirgisen, Tataren sind. Lang sind beide Männer auf ihren Reisen unterwegs, um trotz der Warnungen des Anderen heimlich ihre jeweilige Geliebte zu treffen.

Dostojewski
Dostojewski – Bild aus dem Jahr 1859 Foto: Wikipedia

Mit der Hilfe seines Freundes, der auch zu einer Art Bruder geworden ist, und dank dessen Beziehungen in die höheren Kreise rund um den jungen Zar Nikolai kann Dostojewski, der unter Epilepsie leidet, Sibirien 1857 verlassen. Es werden allerdings noch zwei weitere Jahre vergehen, bis er nach St. Petersburg zurückkehren kann, da ihm vorerst verboten wird, sich sowohl in Moskau als auch in der damaligen Hauptstadt des russischen Zarenreiches niederzulassen. In den kommenden Jahren wird Dostojewski seine großen Romane veröffentlichen, auch sein Werk „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus“ (1862), an dem er bereits in Sibirien geschrieben hat. Trotz einer gemeinsamen Zeit und geteiltes Leid trennen sich die Wege der beiden Freunde. Die letzte Szene wirkt ernüchternd, gar erschütternd und lässt den Leser nachdenklich zurück.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „literaturleuchtet“ und „Muromez“.


Jan Brokken: „Sibirische Sommer mit Dostojewski“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, 432 Seiten, 22 Euro

Foto: pixaybay

4 Kommentare zu „Jan Brokken „Sibirische Sommer mit Dostojewski“

  1. Ich habe das Buch auch mit Interesse gelesen, war jedoch etwas enttäuscht. Das Buch schildert das Verhältnis zwischen den Beiden zu idyllisch und idealisiert, zuweilen schon mit romantischen Zügen. Das ist es nicht gewesen. Es bestanden durchaus Spannungen zwischen den beiden. Insbesondere fehlt am Ende des Buches eine kritische Anmerkung darüber, dass das Verhältnis schnell einschlief, nachdem Dostojewski keinen Nutzen mehr aus dieser Bekanntschaft ziehen konnte und Dostojewski Wrangel später gar in einem Brief in eine Aufzählung übelster Betrüger einreihte.
    Als „Dostojewski-Bewunderin“ kann ich Ihnen gern ein Rezensionsexemplar des 12/2020 erschienen Buches „Dostojewski und die Liebe“ anbieten. In diesem Buch ist der Blick auf Dostojewski jedoch kritischer gehalten.

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