„Die Welt war von einer nie dagewesenen Schwere.“
Manche meinen, die Atmosphäre in einigen Ländern Europas erinnert an die einst dunkle Zeit und die Vorboten dieses Unheils. Rassismus, Antisemitismus und Homophobie treten offen und vermehrt zutage. In seinem neuen Roman zieht der Niederländer Daan Heerma van Voss ebenfalls Parallelen zwischen der Gegenwart und der einstigen Geschichte und verkündet mit Hilfe des markanten wie sympathisch wirkenden Romanhelden zwei wichtige Botschaften.
Der Antiheld wird aktiv
Dabei erscheint Abel Kaplan eher als ein Anti-Held. Der frühere Geschichtsstudent arbeitet in Amsterdam als Mitarbeiter einer islamischen Schule. Von seinen Kollegen wird er kaum wahrgenommen. Sein Arbeitsplatz, in dem er akribisch die Fehltage der Schüler notiert und anderen Verwaltungskram erledigt, ist ein kleiner, nahezu vergessener Raum, der die Bezeichnung Abstellkammer verdient. Einst hat Kaplan Bücher geschrieben. Doch sein Stern als Schriftsteller, der auf die richtigen Worten wartet, ist am Sinken. Und auch privat läuft es eher bescheiden: Von seiner Frau Eva, deren Namen er angenommen hat und für die er zum Judentum konvertiert ist, lebt er bis auf gelegentliche Schäferstündchen getrennt. Doch drei Ereignisse krempeln das Leben des Mittvierzigers zwischen Unzufriedenheit und Weltschmerz von einen Tag auf den nächsten um: Er lernt einen Schüler kennen, der von Mitschülern drangsaliert wird. In der Stadt sieht er zudem ein Gebäude, das umzäunt und von Sicherheitskräften umstellt wird. Durch seine Freundin Judith erfährt er, dass es sich dabei um ein Abschiebelager für Roma handelt. Wenig später nimmt er einen Roma-Jungen bei sich auf. Zugleich zeigt ihm Judith ein rotes Büchlein, in dem ihr Vater seine Erlebnisse als Häftling im Vernichtungslager Auschwitz in Form eines Tagebuches niedergeschrieben hat.
Drei Geschehnisse, die Kaplan von einem eher passiven, stillen und in sich gekehrten Zeitgenossen in einen aktiven Menschen verwandelt, der handelt; wenngleich er selbst überfordert und damit seine Aktionen etwas hilflos und folgend nahezu grotesk erscheinen. Im Fall des Jungen aus der Schule mit Namen Ibrahim – Abel nennt ihn immer wieder Abraham – schreibt Kaplan mehrere Briefe an den Direktor, um auf das Mobbing aufmerksam zu machen, und wird wenig später vor die Tür gesetzt. Den zweiten Jungen nimmt er illegal bei sich auf. Um nicht von seinem neugierigen Nachbarn entdeckt zu werden, gilt es für beide, ruhig zu sein, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Freundin muss dem Vaterlosen allerdings erst, was es heißt, ein Kind zu versorgen. Ein wenig erinnert das an all jene Juden und Widerständler, die damals versteckt worden sind, damit sie überleben. Auch im Fall des Notizbuches von Judiths Vater, das er für ein eigenes Werk verwendet, überschreitet Kaplan Grenzen.
Beklemmende Stimmung
Viele Themen kommen in dem dicht geschriebenen Roman zusammen, ohne dass indes die Handlung überladen wirkt. Schmierereien an einer Synagoge verdeutlichen Antisemitismus. Hitlers Schmierschrift „Mein Kampf“ findet in Antiquariaten reißenden Absatz. Das Mobbing in der Schule sowie die menschenunwürdigen Zustände in den Auffang- und Abschiebelagern zeigen, wie der Mensch mit seinesgleichen umgeht und Ausgrenzung zunimmt. Es herrscht eine äußerst beklemmende Stimmung. Kaplan spricht oft über das Böse im Menschen. In der Person des Historikers van Stolk, der Kaplan bei seinem Buch unterstützen will, findet auch das noch immer aktuelle und brisante Thema der Geschichtsfälschung Eingang in die Handlung. Nur bei einem Hintergrund hätte ich mir mehr Beschreibungen gewünscht: Wie die Geschichte von Abels und Evas Ehe und Liebe wird auch die teils tragische Historie von Abels Eltern mit wie als Fiebersymptom aufwallenden Erinnerungen und Traumsequenzen erzählt: Sein Vater ist früh gestorben, die Mutter war damals mit dessen Bruder ein Paar, bis ein Unglück geschieht. Völlig absurd und wohl die Möglichkeiten literarischer Fiktion in Anspruch nehmend, erscheint indes die erotische Begegnung des Helden mit der Enkelin von Reinhard Heydrich, einer der Hauptorganisatoren des Holocaust.
„Er suchte nach Worten, die den Zusammenhang zwischen dem Jungen und der Welt nahtlos und ohne melodramatisch zu wirken verdeutlichen konnten. Es war auch Judiths und Kaplans Welt. Gerade ihre Welt. Der Junge war zugleich Hunderte von Jungen.“
Daan Heerma van Voss, der 1986 als Nachfahre des Industriellen und Pioniers der modernen Luftfahrt Sybrand Heerma van Voss geboren wurde und an der Seite seines Bruders Thomas mit dem Thriller „Zeuge des Spiels“ (Schöffling) erstmals in deutscher Übersetzung erschien, gibt in seinem aktuellen Roman zwei Botschaften breiten Raum: Jene, dass es wichtig ist, gegen Gewalt und Unrecht aktiv zu werden und Verantwortung zu übernehmen, und dass es erforderlich ist, die historischen Erinnerungen von Zeitzeugen für kommende Generationen zu erhalten und zu bewahren.
Dass Kaplan zwar als Schriftsteller wieder eine Wiedergeburt erfährt, sich manisch in das Lesen und Schreiben des „Einen Buches“ regelrecht versinkt, allerdings letztlich scheitert, gibt diesem spannend zu lesenden wie auch berührenden Roman eine sehr melancholische Note. Und womöglich liegt darin eine weitere Botschaft: Um Gutes für viele und das beständig zu erreichen, braucht es eben auch viele. „Abels letzter Krieg“ wird so zu einem Buch der Stunde.
Daan Heerma van Voss: „Abels letzter Krieg“, erschienen im dtv Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Gregor Seferens; 480 Seiten, 24 Euro
Foto: pixabay
Ähnliches Thema bei mir: Ich höre die Lesung von „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Olivier Guez. Burghart Klausner liest es fabelhaft.
Viele Grüße!
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Ich will mir das Buch noch kaufen als Quartalskauf bei der Büchergilde. :) Viele Grüße nach Berlin und vielen Dank für den Kommentar
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Lohnt sich wirklich, weil so viel Zeitgeschichte nah gebracht wird …
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