Heine Bakkeid „Triff mich im Paradies“

„Alle brauchen einen Ausweg.“

In der Kriminal- und Thrillerliteratur gibt es in der jüngsten Vergangenheit wohl kaum einen so kaputten Ermittler wie Thorkild Aske. Er ist ein Wrack, von körperlichen wie seelischen Wunden und Narben gezeichnet. Mit „Und morgen werde ich dich vermissen“ aus der Feder des Norwegers Heine Bakkeid hat er vor wenigen Jahren die Bühne der Spannungsliteratur betreten. Der erste Fall führte den Ermittler in den hohen, unwirtlichen Norden Norwegens, und auch im zweiten Fall kommt Aske nicht herum, den von ihm ungeliebten Teil des Landes erneut aufzusuchen. Denn ein Serienkiller treibt sein Unwesen, und es gilt, eine junge Frau aufzuspüren, die verschwunden ist.

Held mit vielen Wunden

Dabei ist er eigentlich raus aus dem Geschäft. Seinen Job als begnadeter Verhör-Spezialist in der inneren Abteilung der Polizei hat er verloren. Er verbrachte einige Jahre im Gefängnis und in der Psychiatrie. Sein Versuch, sich das Leben zu nehmen, misslang. Verzweifelt ist er dem Einfluss von Tabletten ausgeliefert. Doch seine Fähigkeiten als Ermittler werden noch immer geschätzt. Diesmal „klopft“ die berühmte Schriftstellerin Milla Lind an. Für ihr Buch, das auf einem realen Fall, bei dem zwei junge Mädchen verschwunden sind, basieren soll, benötigt sie Hilfe. Ihr erster Berater wurde heimtückisch ermordet. Als Täter beziehungsweise Täterin wird dessen Frau vermutet. Doch Aske wird schnell klar, dass diese Fälle ganz andere Ausmaße haben und die Schriftstellerin und ihr „Team“ aus den beiden Polizisten Kenny und Iver auch einiges zu verbergen haben.

mde

Doch dieser Auftrag, den er wieder mit Hilfe seines Psychiaters Ulf erhalten hat,  ist alles andere als einfach. Weitere Opfer kommen hinzu, die nach und nach gefunden werden – mit einer besonderen Körperhaltung und einem besonderen Gegenstand in der Hand: einem Handy. Es hat den Anschein, als würden die Opfer, die mit Kaliumchlorid getötet worden sind, noch vor ihrem Ableben jemanden anrufen. Nach und nach schließt sich der Kreis, wird Aske dank der Hinweise seines einstigen Mentors Dr. Ohlenborg aus den USA sowie Reisen nach Russland und Nordnorwegen klar, dass zwei Täter ihr Unwesen treiben. Doch auch dieser Fall zehrt an den Kräften des Ermittlers, der mehrfach dem Tod von der Schippe springt, wegen seiner Tablettensucht mehr und seine Würde verliert und in Abhängigkeiten gerät: So zu Milla Lind sowie zu seiner Ex-Frau, die mittlerweile mit seinem früheren Chef Gunnar Ore zusammenlebt. Eine Dreiecksbeziehung, die zu einem tragischen Ende führt, allerdings nicht erst am Schluss des Bandes. So viel kann ich an dieser Stelle erzählen, ohne allzu viel zu verraten.

„Manchmal passieren Dinge, die die Zeit verlangsamen oder sie ganz anhalten, und man findet nur schwer heraus, wie man die Uhren wieder zum Ticken bringt.“

Bakkeid, der in seiner norwegischen Heimat auch für seine Jugendbücher bekannt und beliebt ist, erweist sich auch in seinem zweiten Streich als überaus kluger Entwickler einer mehrschichtigen Story, die mehrfach Haken schlägt und einige Überraschungen und Wendungen bereithält. Als Leser, der ja bekanntlich eine Art Hobby-Ermittler ist, ahnt man erst sehr spät, wohin der Hase letztlich läuft, welches Ausmaß dieser Fall mit all seinen Verästelungen annehmen wird. Im Hauptstrang der Handlung, in der Aske als Ich-Erzähler berichtet, gibt es eine zweite Perspektive, mit der das Geschehen aus der Sicht von Olivia, einem der verschwundenen Mädchen, die in einem Jugendheim zu Hause waren, erzählt wird. Der Titel verweist auf ein Lied mit religiösem Anstrich, das die Mutter eines entscheidenden Protagonisten als bekannte Sängerin einst gesungen hat.

Bildhafte Szenerien

Trotz seines extremen Suchtverhaltens und zynischen Wesens bleibt Aske, der immer wieder bei den Menschen seines Umfelds aneckt, auch sympathisch. Er ist ein sehr strebsamer Typ, der die Wahrheit wissen will, komme, was wolle, der mit sich selbst hart ins Gericht geht und sehr genau seine Fehler und Schwächen kennt. An einer Stelle sagt er: „Ich habe keine Ehre mehr, keine Selbstachtung. Ich habe gelernt, wie man ohne Rückgrat stehen und gehen kann.“ Vielleicht sind die zahlreichen Szenen, in denen auf die Tablettensucht eingegangen wird, für einige zu viel des Guten und führen zu einer gewissen Redundanz. Auf jeden Fall entschädigen die eindrucksvollen Beschreibungen der Landschaften, die bereits Bakkeids Thriller-Erstling besonderes geprägt haben. Auch die Dialoge sowie die Charakterisierung der einzelnen Personen und die Schilderungen ihres Verhaltens zählen zu den großen Stärken dieses spannendes Buches, das wieder gen Ende hin recht gruselige Züge annimmt. Derweil kündigt der Norweger auf seiner Internetseite den dritten Band um Thorkild Aske mit dem Originaltitel „Vi skal ikke våkne“ an. Mich freut’s!


Heine Bakkeid: „Triff mich im Paradies“, erschienen im Rowohlt Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein und Justus Carl; 400 Seiten, 14,99 Euro

Bild von Dariusz Sankowski auf Pixabay

 

3 Kommentare zu „Heine Bakkeid „Triff mich im Paradies“

  1. Leider sind es genau diese Ermittlerfiguren, die mir den Zugang zu skandinavischen Krimis und Thrillern deutlich erschweren, weil sie – zumindest in meiner Wahrnehmung – dort zuhauf auftauchen.

    Mir persönlich ist die Handlung in den entsprechenden Büchern immer düster genug, da ist für mich eine solch kaputte Ermittlerfigur immer ein bisschen zu viel. Ich warte noch sehnsüchtig darauf, dass man jemand einen entsprechenden Gegenentwurf erfindet: Jung, zufrieden, idealistisch, in stabiler Beziehung usw. – ich fürchte, ich werde noch eine Weile warten müssen … :-)

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    1. Ich kann dich da gut verstehen. Und ich glaube, einen ähnlichen Kommentar hattest du zu meinem Beitrag über Bakkeids Debüt geschrieben. Aber ich denke, dass die harte Polizeiarbeit sich auf die Seelen der Ermittler legt, weil sie das ganze Ausmaß des Schlechten im Menschen erleben. Kann ich dir vielleicht die Dänin Katrine Engberg ans Herz legen? Sie schreibt über ein Ermittlerduo und zeigt auch immer wieder Humor. Viele Grüße

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