Faszination Sehnsuchtsort – Ein Interview mit Alexander Häusser

Eine Familiengeschichte, eine Großmutter, die ich nur von alten Fotos kenne, Reisen in den hohen Norden zu einen Teil meiner Wurzeln und zehn Monate auf der kleinen Insel Runde verbinden mich mit Norwegen. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr habe ich bereits über dieses sehr enge, sehr  emotionale Verhältnis, das mich prägt, geschrieben. Von einer ähnlich persönlichen Geschichte erzählt der Hamburger Schriftsteller Alexander Häusser in seinem leisen, indes sehr nachdrücklichen Roman „Noch alle Zeit“ (Pendragon), in dem der Held sich auf die Spuren seines Vaters begibt, der eines Tages verschwand, als der Held selbst noch ein Kind war. Ein Interview über den besonderen Hintergrund des Romans, über zwei ungleiche Protagonisten und die Faszination eines Sehnsuchtsorts.

Ihr Roman „Noch alle Zeit“ erzählt von einem Mann, dessen Familiengeschichte eng mit Norwegen verbunden ist. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Das hat biografische Gründe. Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg in Norwegen als Besatzungssoldat stationiert, und ich erinnere mich, dass er sagte, es sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen. Das verstand ich nicht, wie konnte er im Krieg seine schönste Zeit erlebt haben. Ich war noch ein kleiner Junge, als er starb – 1967, mit 54 Jahren, ich stand kurz vor der Einschulung. Ich habe sonst kaum Erinnerungen an ihn. Er war ein schweigsamer Mann. Einer, der, wie so viele seiner Generation, nicht über Gefühle sprach.

Alexander Häusser

Umso eindrücklicher und auch schmerzhaft blieb mir sein Bekenntnis und die Sehnsucht nach diesem Land im Gedächtnis. Nicht bei uns mit der Familie in der Heimat, sondern als Soldat in Norwegen hatte er sein größtes Glück gefunden. Welches Geheimnis verbarg sich dahinter? Hatte er kein Bewusstsein für das von den Deutschen begangene Unrecht? Was verschwieg er? Ich musste der Sache auf den Grund gehen, seine unerzählte Geschichte schreiben.

Der Leser gewinnt den Eindruck, Sie sind für den Roman auch im Norden unterwegs gewesen…

Ich habe tatsächlich mehrmals Norwegen besucht. Die entscheidende Reise aber war 2017 eine mehrwöchige Tour, die ich gemeinsam mit meinem norwegischen Schriftstellerkollegen und Freund Jørgen Norheim durchs ganze Land unternommen habe. Erst während dieser Reise erschloss sich mir die ganze Faszination dieses Sehnsuchtsortes.

Wie lang haben Sie an diesem Buch gearbeitet?

Ich habe an dem Roman acht Jahre lang gearbeitet. Dabei spielte natürlich auch die umfangreiche Recherche eine Rolle.

Welche Herausforderungen bestehen aus Ihrer Sicht, wenn ein persönlicher Hintergrund literarisch bearbeitet wird?

Die Annäherung, die Suche nach meinem Vater, stellte mich wirklich vor immense Schwierigkeiten. Darin liegt auch die lange Schreibzeit begründet. Lange konnte ich der Geschichte nicht habhaft werden: Einerseits war mir mein Vater zu nah, andererseits war er mir immer fremd geblieben. Ich musste eine Balance aus Distanz und Nähe finden, und vor allem meine eigene Haltung, um wirklich frei schreiben zu können. Ich denke, in diesem Findungsprozess steckt die größte Herausforderung. Mir hat dabei das Fiktionalisieren des „Stoffes“ sehr geholfen.

Der Held Edvard lebt bescheiden bei seiner Mutter, erst ihr Tod und der Fund eines geheimen Sparbuchs löst bei ihm den Drang aus, seinen einst verschwundenen Vater aufzuspüren und sich auf eine Reise zu begeben, wobei er letztlich nicht den letzten Schritt unternimmt, um seinen Vater zu finden, sondern sich für die Liebe entscheidet. Liegt darin auch eine Botschaft des Buches? 

Edvards Entscheidung für die Liebe ist die Entscheidung für das eigene Leben im Hier und Jetzt. Denn da liegt sein Glück. Er muss sich von der Vergangenheit, die ihn gefangen hält, befreien. Man kann es als eine Botschaft des Buches verstehen: Es gilt, den Ort und die Zeit zu suchen und zu finden, wo und wann man die Fesseln der Vergangenheit lösen kann. Das hat dann etwas Unbedingtes und lässt sich nicht mehr aufschieben.

Für mich ist dieses Buch nicht nur ein Roadtrip, sondern auch eine Entwicklungsgeschichte. Welche Rolle übernimmt dabei die Heldin Alva/Bianca? Wofür steht diese junge Frau, die ja auch nicht frei von einer Last ist?

Tatsächlich wird die Reise von Edvard und Alva/Bianca zu einer Lebensreise, zu einer Entwicklungsgeschichte. Zwei Lebenswelten, zwei Generationen treffen aufeinander und obwohl die beiden so vieles zu trennen scheint, hat jeder dem anderen auf dem persönlichen Weg viel zu geben. Gerade die Chance des Miteinanders trotz aller scheinbarer Unterschiedlichkeit hat mich an Alva interessiert.

Alva ist ein Kind unserer gegenwärtigen Zeit, lebt in der Großstadt, ist ständig „vernetzt“ und versucht, in einer komplizierten Welt ihren Platz zu finden. Sie hat eine gänzlich andere Vergangenheit als Edvard. Und trotzdem verbindet beide das Thema des eigenen ungelebten Lebens und die Suche nach der Liebe.

 In einem Beitrag werden Sie zitiert mit: „Ich schreibe über das Verfehlte und Erschwerte der Menschen miteinander. Über Sprachlosigkeit, und also über das, worüber nicht gesprochen wird – und worüber man sprechen sollte.“ Sehen Sie da die Literatur als Vermittler zwischen den Generationen oder welche Rolle sprechen Sie ihr zu?

Literatur hatte und hat für mich immer diese Vermittler- und Dialog-Funktion. Durch Bücher sprechen wir miteinander, über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg hören wir die Stimmen der Menschen – was sie in ihren unterschiedlichen Welten bewegt hat, worunter sie gelitten haben, was sie glücklich machte. Und wir antworten ihnen, indem wir lesen, darüber sprechen und nachdenken. Das ist wunderbar.

„Er wollte einmal in seinem Leben die Stimme erheben, wollte brüllen, toben, hinausschreien, dass das Leben einfach vergehen kann, ohne eine Hoffnung, ohne ein Versprechen. Dass nichts einfach schon wird.“

Welche Resonanz haben Sie auf diesen Roman erfahren?

Es war für mich eine berührende Erfahrung, viele sehr persönliche und emotionale Reaktionen zu bekommen. Viele haben sich in Edvard und Alva wiedergefunden, sind mit ihnen auf die Reise, auch zu sich selbst gegangen.

Wie ist Ihre persönliche Beziehung zu Norwegen? Haben auch Sie dort magische Orte, die ja Alva während ihrer Recherche besucht?

Ja, ich hatte die Orte vor Augen und die Magie gespürt. Am Wasserfall „Sputrefossen“ etwa blieb auch für mich die Zeit stehen. Norwegen wurde für mich zu einem Sehnsuchtsort. Und die Faszination für dieses Land und seine Geschichte lässt mich nicht los.

Welche Themen wären mit Blick auf die Beziehung zwischen beiden Ländern und deren Geschichte für Sie noch interessant, um literarisch verarbeitet zu werden? Gibt es möglicherweise auch Tabus, die es gilt, aufgearbeitet zu werden?

Nach einer Schätzung waren 30.000 bis 50.000 Norwegerinnen mit deutschen Besatzungssoldaten liiert. Diese Frauen wurden nach dem Krieg von ihren Landsleuten geächtet und waren schrecklichen Repressalien ausgesetzt. Erst 2018 entschuldigte sich die norwegische Ministerpräsidentin offiziell für das diesen Frauen angetane Leid. Doch nach wie vor scheint mir dieses Thema in der norwegischen Gesellschaft tabuisiert zu sein. Von dem Schicksal der Kinder aus solchen Beziehungen ganz zu schweigen. Inzwischen gibt es erste wissenschaftliche Untersuchungen und literarische Annäherungen an dieses Thema. Doch ich glaube, da ist noch viel zu tun.

Schreiben Sie an einem neuen Roman?

Ja, ich bin schon wieder „mittendrin“. Ich könnte gar nicht anders.

 


Alexander Häusser, 1960 in Reutlingen geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er debütierte mit dem Roman „Memory“. Sein Roman „Zeppelin“ wurde verfilmt. Für sein Schaffen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, so den Literaturpreis der Stadt Hamburg. Häusser lebt mit seiner Familie in Hamburg. Alexander Häusser: „Noch alle Zeit“, erschienen im Pendragon Verlag; 280 Seiten, 24 Euro

Besprechungen zu dem Roman „Noch alle Zeit“ gibt es auf den Blogs „Leseschatz“ und „Sätze & Schätze“.

Foto by Bit Cloud auf Unsplash

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