„Schach verstieß nicht gegen das Christentum, genauso wenig, wie es gegen den Marxismus verstieß. Schach war ideologiefrei.“
Wer als Laie Schach-Berichte liest, wird das Gefühl nicht los, in eine fremde Welt gelangt zu sein. Da gibt es nicht nur spezielle Fachbegriffe, sondern auch kryptische Formulierungen. Da ist von isolierten Freibauern, offener Königslinie oder einem Turmendspiel die Rede. Wer den wieder entdeckten Roman „Das Damengambit“ des amerikanischen Schriftstellers Walter Tevis (1928 – 1984) liest, wird vielleicht nicht alles in den teils seitenlangen Partiebeschreibungen verstehen, aber das Gefühl haben, von der spannenden Geschichte nicht loslassen zu können.
Erfolgreiche Netflix-Serie
Doch wie kommt dieses bereits 1983 mit dem Originaltitel „The Queen’s Gambit“ erschienene Buch überhaupt in hiesige Buchläden? Und das zum ersten Mal in deutscher Übersetzung überhaupt? Es ist wohl ein Zeichen unserer Zeit, dass dem Roman dank einer Verfilmung wieder viel Aufmerksamkeit zukommt und er ein literarisches Comeback feiert. Netflix brachte die Story im Herbst 2020 als Mini-Serie auf heimische Bildschirme jeglicher Größe – mit weltweit riesigem Erfolg. Die Hauptrolle übernahm die argentinisch-britische Schauspielerin Anya Taylor-Joy, Regie führte Scott Frank. Die Dreharbeiten fanden unter anderem auch in Deutschland statt. Mehrere Orte in und um Berlin dienten als Kulisse für verschiedene Schauplätze der Handlung. Allen voran das Schloss Schulzendorf, das in der Serie das Waisenhaus darstellt. Der frühere russische Schach-Weltmeister Garri Kasparow und Bruce Pandolfini berieten die Macher der Serie. Der amerikanische Schach-Trainer unterstützte bereits Tevis bei seinem Roman, der zudem auf die fachliche Hilfe mehrerer Spieler zurückgreifen konnte.
Doch die kurze Aufzählung seiner Berater in der Vorbemerkung des Autors zeigt, worum es in seinem Buch auch geht: Schach war und ist eine Männerdomäne, obwohl Frauen die Sportart zunehmend für sich entdecken, Vereine in der Nachwuchs-Arbeit auch den Fokus auf weibliche Talente lenken. Der Anteil der schachspielenden Frauen liegt allerdings noch immer im nur einstelligen Bereich.
Beth Harmon ist umgeben von Männern, jungen wie erfahreneren, als sie die Turnierwelt erobert, sich einen Namen macht, schließlich in Fachmagazinen, Zeitungen und Illustrierten als Wunderkind gefeiert wird. Dabei ist der Start in ihr Leben denkbar schlecht. Der Vater hat die Familie früh verlassen, die Mutter verunglückt bei einem Autounfall tödlich, als Beth gerademal acht Jahre alt ist. Sie kommt in ein Waisenhaus, wo der dortige Hausmeister ihr das strategische Brettspiel – zu dessen Geschichte später etwas mehr – beibringt. Es dauert nur wenige Partien, bis Beth den älteren Mann schlägt. Das Spiel mit den markanten Figuren und dem Brett mit dem typischen zweifarbigen Muster lässt das Mädchen fortan nicht mehr los. Auch dann nicht, als es ihm nach einem Zwischenfall verboten wird, nachdem es sich an dem Glas mit den Beruhigungspillen, die an die Kinder als sogenannte „magische Vitamine“ verteilt werden, vergriffen hatte. Die Sucht nach Tabletten, später nach Alkohol wird die Heldin über die Jahre mal mehr, mal weniger begleiten und sie nahezu an den Rand der Selbstzerstörung führen.
„Sie spielte nur gegen das Schachbrett, in dessen Oberfläche für sie Kraftlinien geätzt waren: kleine, widerspenstige Felder für die Bauern, ein riesiges Feld für die Dame, die Abstufungen dazwischen. Kurz bevor seine Zeit ablief, setzte sie ihn matt.“
Das Talent des Mädchens basiert auf einer erstaunlichen Fähigkeit: Es kann Partien auch ohne Brett und Figuren nur mit Hilfe seiner Vorstellungskraft und seines vorausschauenden Denkens im Kopf durchspielen. Erst als Beth von den Wheatleys adoptiert wird und Mrs. Wheatley entdeckt, dass sich mit der Leidenschaft des Mädchens auch Geld scheffeln lässt, beginnt dessen steile Karriere. Beth reist durch das ganze Land zu Turnieren, später auch ins Ausland – nach Mexiko, Frankreich und Russland, wo sie erneut auf ihren erbitterten Gegner, den russischen Weltmeister Borgov, trifft, der ihr zuvor klar und deutlich die Grenzen ihres Könnens aufgezeigt hatte.

Doch der Erfolg hat auch seinen Preis. Die Schilderungen der Gefühle und Gedanken der Heldin geben dem Roman eine psychologische Tiefe. Beth gilt sowohl durch ihren sozialen Status als Waisenkind als auch durch ihre Begabung und ihrer völligen Hingabe als Außenseiterin. Sie fühlt sich einsam, ihr stetiger Wille zu gewinnen, wird begleitet von der Angst des Scheiterns. Allerdings weiß sie auch Menschen an ihrer Seite, die sie verstehen und unterstützen. Wie Benny, einst Kontrahent, später ihr Geliebter, Jolene, ebenfalls Waisenkind und spätere Karrierefrau, sowie Mrs. Wheatley, die auf ihre Art und Weise Beth Liebe und Zuneigung und ein Zuhause schenkt.
Das Spiel hat eine lange Tradition, seine Wurzeln liegen in Indien. Chaturanga, das als Ur-Schach gilt, war bereits im ersten Jahrtausend bekannt. Mit der Eroberung Persiens durch die Araber verbreitete sich das Spiel zunehmend. Schon im 13. Jahrhundert war es in Europa sehr bekannt, wohin es auf verschiedenen Wegen zuvor gelangt war. Allerdings war es zeitweise nicht nur umstritten, sondern auch verboten. Zwei Jahrhunderte später kam es zu einer großen Reform der Spielregeln, bei der die heutigen Grundsätze schrittweise entwickelt worden sind. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gründete sich in Zürich der erste Schach-Verein, knapp zwei Jahrzehnte später wurden die ersten internationalen Wettkämpfe ausgetragen. Die Sportart ist keine olympische Disziplin, obwohl der internationale Dachverband FIDE sich schon seit mehreren Jahren für die Anerkennung einsetzt.
Schattenseiten von Talent und Erfolg
„Das Damengambit“ – der Titel bezeichnet eine klassische weil häufig verwendete Eröffnung mit mehreren Varianten – ist ein vielschichtiger und fesselnder Roman über eine besondere Leidenschaft und eine ganz spezielle Heldin. Er zeigt allerdings auch auf, dass Talent und Erfolg Schattenseiten haben und welche Bedeutung prägende Menschen im Leben übernehmen können. Großes Kino – nicht nur auf dem Bildschirm, sondern auch im Kopf! Der Wunsch nach weiteren Tevis-Romanen erfüllt der Diogenes im Übrigen schon im Sommer kommenden Jahres. Dann erscheint der Roman „Der Mann, der vom Himmel fiel“, der bereits 1976 als Science-Fiction-Film in die Kinos kam – mit keinem Geringeren als David Bowie in der Hauptrolle.
Walter Tevis: „Das Damengambit“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Gerhard Meier; 416 Seiten, 24 Euro
Foto von Tono Graphy auf Unsplash
The man who fell to earth ist ein wirklich toller Roman – bin sicher, der wird dir gefallen. Wir haben den vor einer Weile im Bookclub gelesen und alle waren sehr begeistert (https://bingereader.org/2015/07/20/the-man-who-fell-to-earth-walter-tevis/)
Die Serie „Damengamit“ fand ich klasse, den Roman habe ich bisher aber noch nicht gelesen – habe ihn jetzt aber auch mal auf die Liste gesetzt :)
Liebe Grüße, Sabine
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Vielen lieben Dank für Deinen Kommentar. „The man who…“ sollte ich dann wohl mal lesen, zumal der Roman auch eine Art Science-Fiction-Geschichte ist, ein Genre, das ich seit Längerem eigentlich viel öfter lesen wollte. Liebe Grüße zurück und eine gute Woche
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Mich erinnert das ja sehr an Stefan Zweigs „Schachnovelle“ nut mit einer Frau und keinem Gefangenen als Protagonisten. Ich finde die Idee trotzdem gut und werde mal hineinlesen! Vielen Dank für den Tipp und die sehr schöne Einbettung des Romans in seine Serienadaption.
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Vielen Dank für den Kommentar und sehr gern geschehen. Ich habe Zweigs Novelle vor längerer Zeit gelesen. Vielleicht sollte ich mirdas Buch noch einmal vor vornehmen. Die neue Verfilmung soll allerdings auch sehr gut sein. Beste Grüße
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Den „isolierten Freibauern“ und noch mehr die „offene Königslinie“ findest du in Schachberichten eher nicht :-) Aber eigentlich bin ich hier, um zu sagen, dass ich den Beitrag nach diesem anfänglichen Stutzen mit Genuss gelesen habe. Und danke für den Tipp „Mann, der vom Himmel fiel“. Schon vorbestellt!
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Hallo und vielen Dank für den Kommentar, beide Begriffe stammen aus Büchern zur Schachtheorie/praxis, wobei eines schon etwas älter ist. Ich habe nach Schachbegriffen gegoogelt und bin dann auf diese gestoßen. Schön, dass der Beitrag trotzdem gefallen hat. Und auch das kommende Buch von Tevis reizt mich ebenfalls sehr. Viele Grüße
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