Stephan Thome – „Pflaumenregen“

„Der Vergangenheit ist es egal, aus welchem Grund sie uns nicht loslässt.“

Formosa, „schöne Insel“, nannten portugiesische Seefahrer das asiatische Eiland im Westpazifik nach dessen Entdeckung. Heute heißt es Taiwan oder auch Republik China. Bezeichnungen, die auf eine wechselvolle Geschichte hindeuten. In der Inselhauptstadt Taipeh, seiner zweiten Heimat, lebt zeitweise der deutsche Schriftsteller und Sinologe Stephan Thome. In seinem aktuellen und bereits fünften Roman „Pflaumenregen“ erzählt er von einer taiwanesischen Familie und den Wirren des 20. Jahrhunderts – auf eine meisterhafte und einnehmende Weise.

Als der Krieg in das Dorf kommt

Alles beginnt mit zwei Kindern: Umeko will das Spiel ihres großes Bruders Keiji nicht verpassen. Mit ihren Eltern leben die Geschwister in dem Bergdorf Kinkaseki nahe der Küste im Nordosten Taiwans. Keiji ist Klassenbester und ein talentierter Baseball-Spieler, vor dem eine große Zukunft steht. Mit Unterstützung des japanischen Direktors der Goldmine, in der der Vater der Geschwister arbeitet, soll der Junge eine renommierte Handelsschule in Taipei besuchen können. Es sind die letzten Jahre, in denen Taiwan noch Kolonie des japanischen Kaiserreichs ist. Der Weltkrieg rückt näher, der das Leben der Menschen gänzlich verändern wird. In Kinkaseki wird ein Lager für Kriegsgefangene errichtet, die in der Kupfermine schuften müssen, während in der Goldmine der Abbau nahezu eingestellt wird. In den Schulen wird mit Hetzreden die Kriegsbegeisterung und der Hass auf die Feinde geschürt. Keiji, mittlerweile Schüler in Taipei, wird mit anderen Jugendlichen zur Verteidigung der Insel eingesetzt. Ein Erlebnis, das ihn zeitlebens prägen soll.

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Zu diesem Rückblick in die 40er-Jahre öffnet Thome ein zweites Zeitfenster, das gut 70 Jahre später in die jüngste Vergangenheit führt: Lee Ching-mei begeht ihren 80. Geburtstag. Zur Feier reist ihr Sohn Harry an, der schon seit einigen Jahren als Wissenschaftler mit Frau und den beiden Kindern in den USA lebt. Begleitet wird er von seinem Sohn Paul. Wie seine Nichte Julie lässt ihn die Geschichte der Familie, allen voran das Schicksal seines Onkels, nicht los. Unabhängig voneinander haben sie mit Recherchen begonnen, um mehr zu erfahren. Erst nach und nach wird der Leser seine Schlüsse ziehen und die beiden Handlungsstränge verbinden: Lee Ching-mei ist Umeko,  Harrys Onkel ist Keiji, der als Student nach dem Krieg und der Besetzung durch die Chinesen verhaftet wurde und zehn Jahre Gefangener in einem Straflager war.  Sein Traum von einer Karriere als weltberühmter Baseball-Spieler sollte unerfüllt bleiben. Mit den Erinnerungen der Älteren wird die tragische Geschichte sowie die leidvollen und schmerzvollen Erlebnisse, die auch in das Leben der folgenden Generationen wirken, Stück für Stück freigelegt.

„Manchmal ist der Schmerz besser als das, was ihm folgt. Wenn nicht, ist er alles, was bleibt.“

Meisterhaft verbindet Thome diese beiden komplexen Zeitebenen, ohne dass der Leser überfordert wird, er diesem Fluss des Erzählens gut folgen kann – trotz des Rahmens von mehreren Jahrzehnten, trotz der verschiedenen Schicksale und der unterschiedlichen Namen. Nach der Kapitulation der Japaner und der Besetzung der Insel durch die Chinesen, in deren eigenem Land schließlich ein Bürgerkrieg ausbricht, sind japanische Namen verpönt und jegliche Kritik an den neuen „Herrschern“, die die Insel mit harter und gewalttätiger Hand regieren, tabu.  Auch Keijis Onkel, der den Jungen in Taipei aufgenommen hat, bekommt dies zu spüren.  Sein Schicksal, zwar nur kurz geschildert, zählt wohl zu den ergreifendsten. Was dieser Machtwechsel am Ende des Weltkrieges auch für die japanischen Bewohner bedeutet, wird anhand der Lehrerin und Kriegswitwe Shizuko deutlich, die völlig recht- und besitzlos nach Japan zurückkehrt und sich mit Prostitution über Wasser hält. Ein Leben lang sehnt sie sich nach ihrer Wahl-Heimat zurück.

Über Herkunft und Identität

Thome studierte neben Philosophie und Religionswissenschaft zudem Sinologie. Seine Reisen führten ihn in mehrere Länder Asiens, so nach China, Japan und Taiwan, wo er von 2005 bis Mitte 2011 als Stipendiat am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie in Taipeh tätig war. Er debütierte 2009 mit dem Roman „Grenzgang“. Bereits in seinem 2018 erschienenen Roman „Gott der Barbaren“, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, führt er nach Asien, genauer gesagt ins China des 19. Jahrhunderts. Sein Wissen und seine Zuneigung für diese Region und ihre Menschen ist seinem neuesten Buch deutlich anzumerken.

Denn „Pflaumenregen“ erzählt vor allem darüber, was die zu Geschichte werdenden Ereignisse in Politik und Gesellschaft mit dem Menschen machen, wie sie auf Leben und Alltag Einfluss nehmen, wie sie Träume und Beziehungen zerstören, wie die nächsten Generationen mit den Traumata ihrer Vorfahren umgehen müssen, vor allem auch dann, wenn diese schweigen. Nur wenig wissen Harry und Julie von ihrer Mutter beziehungsweise Großmutter sowie ihrer Ehe zu einem Chinesen, die, einst liebevoll begonnen, schließlich unter dem Schicksal des Bruders und den politischen Verhältnissen leidet.  Der Roman lässt nachdenken über Herkunft und Identität und welche Rolle die Sprache dabei spielt.  All das sind Fragen und Themen, die sich die Menschen wohl auch unabhängig von diesem besonderen Schauplatz des Romans immer wieder stellen (müssen).

Am Ende schließt sich der Kreis. In einer sehr liebevoll geschilderten Szene besucht die nunmehr betagte Umeko an der Seite ihrer Nachfahren den Ort ihrer Kindheit. Nicht nur mit diesem berührenden Abschluss beweist der Roman eine tiefe Menschlichkeit, den zugleich trotz der dramatischen Geschehnisse eine besondere Schönheit und Anmut umgibt und der vieles über die Geschichte einer Insel lehrt, die fast 10.000 Kilometer von hiesigen Breiten entfernt ist und uns zuvor noch fremd erschienen ist.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „LiteraturReich“, „Leseschatz“ und „Bücheratlas“.


Stephan Thome: „Pflaumenregen“, erschienen im Suhrkamp Verlag; 526 Seiten, 25 Euro

Foto von Y S auf Unsplash

2 Kommentare zu „Stephan Thome – „Pflaumenregen“

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