Jon McGregor – „Stürzen Liegen Stehen“

„Viele Jahre. Junger Mann, alter Mann. Viele Schichten. Diese. Diese Geschichte. Ein Tag. Arbeit. Sturm kommt.“

Antarktis – weiße Welten, eine unwirtliche Gegend, in die der Mensch erst spät seinen Fuß gesetzt hat. Eis und Kälte haben den Kontinent in der südlichen Erdhalbkugel fest im Griff. Bereits seit vielen Jahren arbeitet Robert „Doc“ Wright als erfahrener Camp-Leiter in der Antarktis, wo Vermessungswissenschaftler wie Luke und Thomas tätig sind. Ein Sturm trennt die drei Männer voneinander und bringt sie unweit ihrer Station in Lebensgefahr. Die sicher geglaubte und lebenswichtige Funkverbindung fällt zudem zeitweise aus. Plötzlich ist nichts mehr, wie es einst war. Nur zwei werden überleben. Der Engländer Jon McGregor erzählt in seinem neuen Roman eine berührende Geschichte über Hilflosigkeit und die Folgen, wenn Kommunikation scheitert.   

Wenn das frühere Leben Geschichte wird

Obwohl der Autor zu Beginn seines Romans die antarktischen Besonderheiten, die Menschenleere und die beeindruckende Kulisse aus Eis und Meer, sowie die speziellen Aufgaben und das karge Zuhause der Männer beschreibt, ist dies kein Abenteuerbuch per se, wie es im Klappentext steht. Es sei denn, man weitet den Begriff „Abenteuer“ aus und bezeichnet so auch die Erlebnisse und Erfahrungen, die Robert und seine Familie nach dem fürchterlichen Sturmereignis machen müssen. Denn Robert findet sich als Schlaganfall-Patient in einem Krankenhaus in Santiago de Chile wieder. Anna reist kurzerhand nach Südamerika zu ihrem Mann, der extrem gezeichnet ist von Lähmungserscheinungen und einem kompletten Sprachverlust.

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Die bekannte Wissenschaftlerin muss ihr früheres Leben aufgeben, um sich um ihren Partner zu kümmern. Die bereits erwachsenen Kinder zeigen nur wenig Hilfsbereitschaft, haben ihre ganz eigenen Sorgen: Sara hat einen neuen Job und Frank die Befürchtung, dass auf seinen Vater ein Rechtsstreit zukommt. Denn nicht sicher ist, wie es zu der Tragödie in der Antarktis kommen konnte. Lag die Schuld bei Robert?

„Wenn kein Mensch auf den Fotos zu sehen war, konnte man sich die Dimensionen dieser Landschaft unmöglich vorstellen.“

Nahezu zwei Drittel des Romans stellen sich der Frage, was ein Schlaganfall, der meist plötzlich geschieht, für den Betroffenen und seine Angehörigen bedeutet; eine extreme Belastungsprobe körperlich wie seelisch sondergleichen, die dem Patienten den Boden unter den Füßen wegzieht. Selbst kleine Dinge des Alltags, kleine Bewegungen, die früher selbstverständlich waren, benötigen viel Kraft und Zeit, um sie wieder zu erlernen, zu üben. Anna findet kaum mehr Zeit, sich ihrer eigenen, sehr komplexen Arbeit als Klima-Forscherin zu widmen, obwohl ihr auch Pfleger und Therapeuten zur Seite stehen. Die neue Nähe zu ihrem Mann, der in den vergangenen Jahren in regelmäßigen Abständen für mehrere Monate in der Antarktis und damit eine halbe Welt fern seiner Familie weilte, empfindet sie zu Beginn als unangenehm. Doch Robert macht Fortschritte, auch wenn sie Zeit brauchen. Vor allem der Besuch einer Selbsthilfegruppe bringt die Wende, Anna sieht ihren Mann mit anderen Augen und erfährt von anderen Schicksalen, die ähnliches erleiden mussten.

Mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Offenheit erzählt McGregor vom neuen Leben seiner Figuren, ihren Anstrengungen, ihrer zeitweisen Hilflosigkeit. Anna steht mit Bridget eine Freundin und Vertrauensperson zur Seite. Sie hat ihren Mann gänzlich an die Antarktis verloren, der dort in einer Gletscherspalte zu Tode kam. Annas Mann ist hingegen zurückkehrt, doch als ein ganz anderer. Immer wieder gibt es Rückblicke in die Vergangenheit. In der Darstellung dieser Sprachlosigkeit erweist sich der Roman als großartiges Meisterwerk. Der Autor bringt dem Leser nahe, was es bedeutet, infolge eines Schlaganfalls Gedächtnis und Sprache zu verlieren. Mitunter lesen sich Äußerungen der Patienten wie eine eigenwillige Poesie, für deren Übertragung Übersetzerin Anke Caroline Bürger gewürdigt werden sollte.

Verlust der Kommunikation mit Folgen

McGregor, 1976 auf den Bermuda-Inseln geboren und in der englischen Grafschaft Norfolk aufgewachsen, zählt zu den renommiertesten zeitgenössischen Autoren seiner Heimat. Für seine Werke, Erzählbände sowie Romane, wurde er vielfach ausgezeichnet. Drei Romane waren für den Booker Prize nominiert. Zuletzt erschienen: der Roman „Speicher 13“, ein komplexes wie dicht gestricktes Porträt eines Dorfes und seiner Menschen.

Nunmehr in „Stürzen Liegen Stehen“ –  die drei Wörter des besonderen Titels stehen zugleich über den großen Abschnitten des Romans und für eine Entwicklung – dreht sich die Handlung um einen Mann und seine Familie, seine große Leidenschaft und sein tragisches Schicksal, das wohl keinen kalt lassen wird. Sowohl der Ausfall der Funktechnik als auch Roberts Aphasie stehen für den Verlust der Kommunikation, der drastische Folgen mit sich bringt, die allerdings auch überwindet werden können.  Der Roman lässt nachdenken über Gesundheit und Krankheit, über persönliche Aufgabe und Hilfsbereitschaft. Und trotz aller Melancholie und Dramatik liegt am Ende eine leise Hoffnung in diesem sehr eindrücklichen Buch.  Zum Schluss geht es noch einmal zurück in die Antarktis, jene Gegend, die Robert in seinem Körper trägt. Ein besonderer Teil, der ihn nicht genommen werden kann.


Jon McGregor: „Stürzen Liegen Stehen“, erschienen in der Verlagsbuchhandlung Liebeskind, in der Übersetzung aus dem Englischen von Anke Caroline Burger; 320 Seiten, 22 Euro

Foto auf Matt Palmer auf Unsplash

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