„Ich glaube, uns macht die Zivilisation gewalttätig.“
Wohl kein anderes Tier löst im Menschen so gegensätzliche Gefühle aus wie der Wolf. Die einen fürchten und jagen ihn, weil er als Raubtier Nutztiere tötet. Für andere ist er der Inbegriff eines ökologischen Gleichgewichts und ein Tier voller Anmut und Schönheit. Beide Positionen lassen sich auch in dem neuen, vorrangig in Schottland angesiedelten Roman der australischen Autorin Charlotte McConaghy finden, die mit „Wo die Wölfe sind“ wieder eine starke Frauenfigur und die Dringlichkeit des Natur- und Artenschutzes in den Mittelpunkt rückt.
Ein Waldkind
Bereits mit ihrem im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschienenen Debüt „Zugvögel“, das viele Leserinnen und Leser und auch mich begeistert hat, erzählt sie von einer Wissenschaftlerin, die sich für die Belange von Tieren auf besondere Weise engagiert. War es damals die Ornithologin Franny und ihr Einsatz für die Küstenseeschwalben, treffen wir diesmal auf Inti. Mit ihrer Zwillingsschwester Aggie wächst sie in Kanada und Australien auf, denn ihre beiden Eltern leben getrennt und auf zwei unterschiedlichen Kontinenten. Die Mutter ist Polizistin, der Vater Waldarbeiter, der den Kindern alles über das Leben im Wald und die engen Verbindungen zwischen den Wesen beibringt. Als Wolfsspezialistin soll Inti ein Projekt in Schottland begleiten. Mehrere Rudel, aus British Columbia stammend und per Schiff nach Europa gebracht, werden in den Highlands ausgesetzt, um die Rotwild-Population unter Kontrolle zu bringen und somit dem Wald es zu ermöglichen, sich zu regenerieren.
Das Projekt stößt auf wenig Gegenliebe bei den Einheimischen, vor allem die Bauern fürchten um ihre Schafe. Die Stimmung in der Gegend ist aufgeheizt. Es dauert nicht lange, bis Inti um den ersten erschossenen Wolf trauert. Doch das Dorf, allen voran Polizei-Chef Duncan, hat noch ein anderes Problem, als einer der Landwirte plötzlich verschwindet. Spielen dabei die Wölfe eine Rolle oder vielmehr dessen brutales Verhalten seiner Frau gegenüber?
An dieser Stelle gebe ich nichts weiter preis. Vielleicht nur so viel: Wolf Nummer 9 wird nicht der einzige Isegrim sein, der sein Leben lässt, und hinter dem Verschwinden Stuarts steckt ein Täter, der am Ende den Leser überraschen wird, allerdings auch den Bogen spannt zu einem zweiten großen Thema, dem sich McConaghy widmet: die häusliche Gewalt und ihre traumatischen Folgen, von denen sowohl die beiden Zwillingsschwestern als auch der Polizei-Chef, mit dem Inti eine Beziehung eingeht, betroffen sind. Auf eine entsetzliche Weise, die sprachlos macht. Da ist der Gedanke nicht allzu weit zu dem aus der Antike stammenden, aber oft dem englischen Philosophen Thomas Hobbes zugeschriebenen Zitat „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ und der oft formulierten Frage, ob der Mensch nicht das größte Raubtier auf Erden ist.
„Ob sich wohl etwas in ihrem Körper an dieses Land erinnert, so wie das Land sich an sie? Es kennt sie gut; es hat darauf gewartet, dass sie es aus seinem langen Schlummer wecken.“
Nicht nur wegen der Protagonistin, ihres Einsatzes für die Natur und Umwelt sowie jenes Umstandes, dass die Handlung auf mehrere Schauplätze verteilt wird, gibt es weitere Parallelen zwischen McConaghys beiden Romane. Erneut hat die Heldin schreckliche wie schicksalhafte Erlebnisse, von denen in Rückblenden berichtet wird, erfahren – ist nunmehr allerdings auch von einer Gabe gezeichnet: Sie hat die Mirror-Touch-Synästhesie. Sie spürt den Schmerz ihres Gegenübers körperlich. Davon Betroffene verfügen über eine viel größere Empathie. Die Ursache liegt in einer stärkeren Vernetzung mehrerer Hirnregionen. Rund zwei Prozent der Menschen auf der Welt haben diese spezielle Eigenschaft beziehungsweise leiden darunter. Doch wir lernen noch mehr: McConaghy vermittelt viel Wissen über Wölfe, über ihre Fähigkeiten und ihr Sozialleben, erwähnt dabei auch die Rolle des Wolfs für das ökologische Gleichgewicht und verweist unter anderem auf den Yellowstone-Nationalpark, wo er vor 25 Jahren zurückgekehrt ist, nachdem er dort wie in weiten Teilen der USA ausgerottet wurde. Der Australierin mit irischen Wurzeln gelingen darüber hinaus eindrucksvolle und bildmächtige Landschaftsschilderungen. Immer wieder rückt sie des Weiteren die Verbindung zwischen Mensch und Tier und die Beziehungen zwischen den Menschen, vorrangig das enge Verhältnis der beiden Zwillingsschwestern zueinander und zu ihrem Vater, in den Fokus, worin eine besondere Stärke des Romans liegt.
Wo steht der Mensch?
So entstehen mehrere Ebenen, die miteinander verbunden, eine großartige Spannung und tiefe Emotionen beim Leser erzeugen, wobei gegen Ende allerdings das Geschehen archaische, nahezu unrealistische Züge annimmt. Trotz alledem ist „Wo die Wölfe sind“ ein Buch, das man bis zur letzten Seite mit sehr viel Anteilnahme liest und das wohl die aktuelle Rückkehr des Nature Writing und die Rückbesinnung auf diese Form des Schreibens auf eine besondere Art und Weise begleitet. In diesem vielschichtigen und berührenden Roman über Trauer und Schmerz, aber auch über Liebe und Vertrauen geht es nicht nur um die Rolle des Wolfes im großen Gefüge, sondern auch um die Frage, wo der Mensch steht, wo er stehen muss, um Natur und Umwelt letztlich zu bewahren. Eine Frage, deren Bedeutung und Beantwortung wohl größer denn je sind.
Charlotte McConaghy: „Wo die Wölfe sind“, erschienen im S. Fischer Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Tanja Handels; 432 Seiten, 22 Euro
Ein Kommentar zu „Charlotte McConaghy – „Wo die Wölfe sind““