„Wörter verschwanden oft als Erstes, wenn man fieberte.“
Kein Mensch in den himmelhohen Wolkenkratzern, keine Menschenmenge auf den breiten Straßen und den von flirrenden Werbeflächen umsäumten Plätzen. Kein Lärm, keine hektische Betriebsamkeit. New York – eine Geisterstadt. Vor drei Jahren hätten wir den Gedanken wohl als unmögliche Fantasie abgetan, als Traum, als literarische Dystopie angefüllt mit einer beängstigenden, aber unwirklichen Endzeitstimmung. Mit Corona und Lockdown auch in der Stadt, die niemals schläft, wurde dieser Gedanke jedoch real. Bereits zwei Jahre vor Beginn der Pandemie erschien mit „Severance“ das preisgekrönte Debüt von Ling Ma, das unter dem Titel „New York Ghost“ auch hierzulande für reichlich Begeisterung sorgte und von einem tödlichen Erreger erzählt.
Wenn Pilzsporen töten
Mich erreichte dieser Roman mit etwas Verspätung, zugegeben. Selbst als er den Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage 2021 erhielt, war das kein Anlass für mich, nach dem Buch zu greifen, obwohl es in meinem Hinterkopf unter der Kategorie „Muss du lesen“ stets präsent war. Erst die kürzlich erschienene Taschenbuchausgabe – ein Sorry an alle Hardcover-Fans – gab letztlich den entscheidenden Anstoß. Dabei ist die vielschichtige Geschichte um den Ausbruch einer weltweiten Pandemie durch tödliche Pilzsporen nur ein Thema, dem sich die chinesisch-stämmige US-Amerikanerin in ihrem komplexen Erstling widmet. Anhand ihrer Heldin und Ich-Erzählerin Candace Chen verhandelt sie zugleich politische, wirtschaftliche wie gesellschaftliche Fragen, die noch immer ungemein aktuell sind und wohl auch bleiben werden.
Candace arbeitet bei einem Dienstleister für Verlage, der Beziehungen nach Asien unterhält. Oberstes Ziel ist es, Bücher nicht nur ansprechend, sondern auch so billig wie möglich zu produzieren, meist in hohen Stückzahlen für den amerikanischen Markt. Das Unternehmen hat seinen Sitz an repräsentativer Stelle – am Times Square. Candaces Büro befindet sich im 32. Stock eines Hochhauses. Candace ist ehrgeizig und fleißig, sie erfüllt ihre Pflicht, obwohl ihre wirklichen Fähigkeiten und Talente in ihrem Job nicht wirklich zum Tragen kommen. Als die Pandemie schließlich New York erreicht, bleibt Candace als einzige Angestellte zurück. Sie verlässt ihren Arbeitsplatz erst, als die Mega-City zu einer Geisterstadt geworden ist und sie ihren Vertrag erfüllt hat.
Eine sektenähnliche Gruppe findet sie schließlich ausgezehrt und allein in einem Taxi in Pennsylvania. Die Frauen und Männer um ihren Anführer Bob plündern Wohnungen und Einkaufszentren – ohne Rücksicht auf Verluste und fern moralischer Kategorien. Es sind grauenhafte, brutale Szenen, die das ganze Ausmaß der Katastrophe verdeutlichen und aufzeigen, wie Menschen in einer existenzbedrohenden Lage handeln können. Schließlich erreicht die Gruppe das von Bob angestrebte Ziel: eine Mall nahe Chicago, mit der er besondere Erinnerungen verbindet.
Lieferketten brechen zusammen
Erinnerung ist ein Stichwort, das immer wieder in diesem Roman auftaucht. Die Erkrankten, die sogenannten Fiebernden, sind in ihren Erinnerungen gefangen, leben als Zombies ein seelenloses Leben, egal ob Kind oder Erwachsener. Um an die Ereignisse speziell in New York zu erinnern, lässt Candace ihren bereits stillgelegten Blog „New York Ghost“, in dem sie Impressionen der Mega-City postet, wieder aufleben. Sie wird zu einer Chronistin der erschreckenden Ereignisse.
Das sogenannte Sheng-Fieber, das seinen Ursprung in China hat, führt nach ersten Erkältungssymptomen zu einem tödlich verlaufenden Bewusstseinsverlust. Die Überlebenschancen sind nahezu null. Infolge der weiteren Ausbreitung der Erkrankung im fernen Osten brechen die Lieferketten zusammen. Die Druckerei, mit der Candaces Unternehmen in Verbindung steht, stoppt die Produktion, weil die Mitarbeiter erkrankt beziehungsweise bereits verstorben sind. Gerade mit Einblicken in die Geschäftspraktiken des amerikanischen Dienstleisters zeigen sich nicht nur die Kälte und Unberechenbarkeit des kapitalistischen globalen Systems, sondern auch seine Schwächen, die in der realen Corona-Pandemie hierzulande sichtbar wurden. Es liegt sehr viel Hellsicht in den Beschreibungen der Folgen des Sheng-Fiebers – von der globalen wirtschaftlichen Entwicklung bis zum Verhalten jedes Einzelnen wie das Tragen von Masken, die Isolation, die Meldungen, wer infiziert ist, wer nicht. Durch die schnelle Ausbreitung und die hohe Sterberate bricht schließlich auch in New York die komplette Infrastruktur zusammen.
„Wenn ein Pferd über den Times Square läuft, und niemand ist da, um es zu sehen, ist es dann wirklich passiert? Wenn New York zusammenbricht und niemand es dokumentiert, passiert es dann wirklich?“
In der Lebensgeschichte der Heldin spiegelt sich zugleich das Thema Migration und Identität wider. Wie die 1983 geborene Autorin ist Candace in China zur Welt gekommen und durch die Immigration ihrer Eltern in den USA aufgewachsen. Ihre Eltern sterben jedoch früh. Zur Familie in China sind die Kontakte nahezu gänzlich abgebrochen, ihr Chinesisch ist das eines Kindes. Was bleibt, sind die wenigen Erinnerungen an die Eltern, die zahlreichen Tanten und Onkel in der Ferne.
In „New York Ghost“ trifft bissige Gesellschaftssatire auf ein dunkles dystopisches Roadmovie sowie ein faszinierendes Porträt der Metropole und einer eigenwilligen Protagonistin. Die zahlreichen Themen schlüssig zusammenzuführen, gelingt der Autorin dank verschiedener Zeitebenen, die die Jahrzehnte und Jahre vor dem Ausbruch der Pandemie sowie die Wochen und Tage danach einfangen. Eine komplexe Konstruktion, die einen Sog entwickelt sowie Staunen und Respekt abnötigt. Das offene Ende könnte bei dem einen oder anderen begeisterten Leser womöglich den Wunsch nach einer Fortsetzung auslösen. Für ihr Debüt erhielt die Autorin den Whiting Award, den Young Lions Fiction Award und den Kirkus Prize verliehen und stand auf der Shortlist des PEN/Hemingway Award for Debut Novel. In diesem Jahr erschien ihr zweites Buch: der Erzählband „Bliss Montage“. Eine deutsche Übersetzung ist angesichts des Erfolgs ihres Debüts nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern wohl unausweichlich.
Weitere Besprechungen auf den Blogs „Buch-Haltung“, „deep read“, „leseschatz“, „Das graue Sofa“ und „Poesierausch“.
Ling Ma: „New York Ghost“, erschienen im CulturBooks Verlag, als Taschenbuch im Unionsverlag; in der Übersetzung aus dem Englischen von Zoë Beck
Foto von Paulo Silva auf Unsplash
diese deine Rezension hat das Buch, das auch bei mir seit einiger Zeit, auf der „must read“ Liste steht, weiter nach oben rutschen lassen…
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Das freut mich sehr, dass ich zum „Aufstieg“ des Romans verhelfen konnte. Viele Grüße nach Berlin
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