„Es ist absolut furchtbar, mit so etwas zu leben – dem Wissen um einen Mord und dem Beweis direkt vor unserer Nase (…).“
Ein Garten ist eine grüne Oase – in manchen Fällen kann er auch Ort eines dunklen Geheimnisses sein. So haben die Fitzsimons auf jeden Fall etwas zu verbergen, als Andrew und seine Frau Lydia die 22-jährige Prostituierte Annie an einem Novemberabend 1980 töten und kurzerhand auf ihrem herrschaftlichen Anwesen vor den Toren Dublins verscharren. All dies geschieht auf den ersten Seiten des Romans „Auf der Lauer liegen“ der irischen Schriftstellerin Liz Nugent, so dass ich an dieser Stelle nichts verrate und damit angespannte Krimi-Leser verärgere. Denn Nugent rollt die Story in eine andere Richtung auf – und das ist der Clou an ihrem großartigen psychologischen Thriller.
Familienleben wird brüchig
Im Normalfall käme ein windiger, vielleicht auch kauziger, aber kluger Ermittler, der den Mord aufklärt und den angesehenen Richter und seine Frau vor ein Gericht bringt. Doch normal ist langweilig und in diesem Roman die Polizei eine eher verschlafene und stinkfaule Truppe, die – bis auf eine Ausnahme – weder ernstzunehmenden Hinweisen nachgeht, noch den Aussagen von Annies Familie Glauben schenkt. Und Sergeant O‘ Toole, der die Ermittlungen übernimmt, ist zudem ein Widerling. Die junge Frau, die auch noch den Drogen verfallen ist, ist keineswegs abgehauen oder hat ob ihrer tragischen Lebenslage den Freitod gewählt, sondern befindet sich, wie der Leser bereits weiß, im leblosen Zustand im Garten der Fitzsimons. Das Ehepaar, das sein Vermögen durch windige Geschäfte eines Bekannten verloren hatte, könnte jetzt aufatmen, doch ihr kaltblütiges Verbrechen hebt das bereits angeschlagene Familienleben gänzlich aus den Angeln. Andrew verliert die Nerven und Sohn Laurence weiß mehr, als er zugibt, doch das unter dem Teppich Gekehrte will oder wagt er nicht anzurühren. Warum, das wird auf den nächsten Seiten bis zum Ende dieser letztlich bitterbösen Geschichte allzu deutlich.
Die Jahre vergehen, die Familie dezimiert sich auf natürlich Weise. Lydia und ihr Sohn, der mittlerweile als Ernährer für das Geld im Hause Fitzsimons sorgt, leben allein auf dem riesigen wie vornehmen Anwesen namens Avalon. Als Laurence Karen, die Schwester von Annie, sowie deren Vater, den er als Arbeitsberater betreut, kennenlernt, kreuzen sich schließlich die Wege beider Familien. Die im Laufe der Zeit nahezu verschütteten Erinnerungen und damit eine ganze Reihe an Gefühlen kommen wieder hoch. Denn Karen gibt nicht auf, nach ihrer Schwester zu suchen. Währenddessen werden Karen und Laurence ein Paar, was Lydia, die ein zweites dunkles Geheimnis aus ihrer Kindheit – ein früheres Spiegelbild des jüngsten Verbrechens – geschickt zu verbergen weiß, mit aller Macht verhindern will.
„Ich war ein kleiner Kiesel, der von einer gewaltigen Sturmwelle ins Meer hinausgespült wurde, und es gab niemanden, den ich hätte um Hilfe bitten können.“
Das Geschehen wird aus verschiedenen Perspektiven geschildert, alle drei Hauptakteure – Lydia, Laurence und Karen – kommen zu Wort und berichten aus ihrer Sicht von den Ereignissen, so dass manche Szenen wiederholt erzählt werden. Vom Mord im November 1980 erstreckt sich die Handlung bis ins Jahr 2016, wo der Leser auf eine mittlerweile demente Lydia trifft. Nugent lenkt den Blick vor allem auf die Geschichten ihrer Figuren und erzählt, wie sie sich entwickelt, was sie geprägt haben. Aus dem pummeligen und eher unansehnlichen Laurence, der von einer unglücklichen Beziehung zur nächsten stolpert, wird ein gut aussehender Mann, der Erfolg im Job hat, als Kollege geschätzt wird. Karen wird als Foto-Model entdeckt und bringt den Mut auf, sich aus den Fängen ihres machtbesessenen Freundes zu befreien. Doch diese gute Zeit, in der alles glatt läuft, ist nur von kurzer Dauer. Die Tat von einst verfolgt alle, und eine berechnende Person hat alles perfekt im Griff.
Mehrfach preisgekrönt
Nugent, 1967 geboren und Autorin für Radio, Fernsehen und Theater, ist für ihr Schaffen bereits mehrfach ausgezeichnet worden; so erhielt sie 2014 und 2018 den Irish Book Award und 2021 den James Joyce Award der Literary & Historical Society der Universität Dublin verliehen. Ihr letzter Roman „Our Little Cruelties“ erschien in deutscher Übersetzung 2021 mit dem Titel „Kleine Grausamkeiten“ (Steidl). „Auf der Lauer liegen“, bereits 2016 im Original veröffentlicht und aktuell auf der Krimi-Bestenliste geführt, erzählt von Abhängigkeiten und Manipulation und wie ein solches Verbrechen und Geheimnis sowohl die Familie der Täter als auch die des Opfers für immer verändert. Das wirkmächtige weil grauenhafte Ende des clever konstruierten Romans erschüttert, Leser sollten deshalb – das zur Warnung – mit einer gewissen Schockstarre rechnen.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „letteratura“.
Liz Nugent: „Auf der Lauer liegen“, erschienen im Steidl Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Kathrin Razum; 352 Seiten, 28 Euro
Foto von Markus Spiske auf Unsplash