„Die Menschen machen ihre Geschichte nie unter selbstgewählten Umständen.“
Albanien – das unbekannte Land in Europa. Eine Wendung, die oft über Reiseberichten steht. Denn was wissen wir von diesem Land im Südosten des Kontinents, das wohl bei vielen von uns nicht unbedingt auf der Hitliste der Reiseziele steht, obwohl Bilder von eindrucksvollen Landschaften und dem faszinierenden Kontrast von Bergen und Meer zeugen. Lea Ypi ist ein Kind Albaniens. 1979 in Tirana geboren, unterrichtet sie heute Politische Theorie als Professorin an der London School of Economics. Eines ihrer Forschungsgebiete ist der Marxismus, was nicht von ungefähr kommt. Sie ist elf als auch in ihrem Land der eiserne Vorhang fällt. In ihrem Buch „Frei“ erzählt sie von ihren prägenden Erlebnissen und Erinnerungen – am Ende der Geschichte.
Wenn ein System kippt
Alles beginnt an einem Dezembertag im Jahr 1990 – und Stalin, der seinen Kopf verliert. Jedenfalls die Statue, die Lea so gern umarmt. Symbol für den Umbruch, der das Land erfasst. Als letztes der Ostblock-Staaten. Das System des Sozialismus wie auch die Statue des Ministerpräsidenten Enver Hoxha kippt. Ein System, das das Mädchen prägt. Da sind die langen Schlangen an der Keksfabrik und den Läden mit westlichen Produkten, wo mancher sich durch einen Stein, eine Konservendose oder eine Tasche vertreten ließ, um für ein Weilchen zu verschwinden und trotzdem nicht den Platz einzubüßen. Die Wirtschaft ist marode, die Wohnverhältnisse bescheiden. Da ist die Lehrerin Nora, die ihren Schülern von der Freiheit und den Vorzügen des Sozialismus erzählt. Doch Lea bemerkt die Widersprüche – innerhalb der Gesellschaft, innerhalb ihrer eigenen Familie.
Mit Vater Zafo, Mutter Doli, Großmutter Nini und dem jüngeren Bruder Lani lebt sie in Dürres, einer westlich von Tirana gelegenen Hafenstadt. Ihre Eltern zählen zu den Intellektuellen, deren „Biografie“ nicht der Norm entspricht. Während ihr Vater Mathematik studieren wollte, aber nicht durfte, muss ihre Mutter das Fach studieren, obwohl sie eher der Kultur zugeneigt war. Ihre Großmutter stammt aus einer großbürgerlichen Familie und hat in Griechenland studiert. Mit ihrer Enkelin spricht sie Französisch, wobei es eine Sprache gibt, die nur die Erwachsenen kennen, mit der sie Schicksale aus der Familie zum Schutz der Kinder verschleiern. Erst später wird Lea erfahren, was mit ihrem beiden Großvätern geschehen ist, welche Rolle Verrat in dem System spielt, welchen Platz ihr Namensvetter, der als Verräter und Kollaborateur gilt, in der Geschichte des Landes einnimmt, wobei die Autorin auch in die Zeit des Weltkriegs und des Faschismus blickt, als Albanien von Italien besetzt war.
„Der Klassenkampf war nicht vorbei, so viel hatte mein Vater begriffen. In seinen Augen sollte die Welt kein Ort sein, wo Solidarität zersetzt wird, wo nur die Stärksten überleben und der Preis für den Erfolg der einen die zerstörte Hoffnung der anderen ist.“
Als Kind der DDR weckte die Lektüre viele Erinnerungen, aber auch ein zwiespältiges Gefühl entstand, das sowohl die Idylle der Kindheit als auch den Schatten einer Diktatur, die das Private unweigerlich einnahm, vereint. Damals war ich wie Lea Pionier. Das Ausland habe ich bis zur Wende nicht gesehen. Die Ferien gingen an die Ostsee. Manche Themen waren tabu. Produkte aus dem Westen gab es für teures Geld in speziellen Geschäften, die den modernen Namen Intershop trugen, oder kamen ab und an per Paket zu uns, umgeben von einem Duft von Kaugummi und Kaffee. Dann am 9. November 1989 der Mauerfall, meine Eltern blicken gespannt auf den Fernseher mit den heute geschichtsträchtigen Aufnahmen, mahnen mich, ruhig zu sein. Doch nicht wie in der DDR friedlich nimmt der politische Wandel Jahre später in Albanien gewalttätige und blutige Züge an. Mit Tagebucheinträgen aus der Zeit von Januar bis April 1997 gibt Ypi erschütternde Einblicke in die damaligen Ereignisse. Staatliche Strukturen brechen zusammen, es kommt zu Plünderungen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die letztlich das Leben von mehr als 1.000 Menschen fordern. Auslöser des sogenannten Lotterieaufstandes waren die riesigen und damit folgenreichen Geschäfte betrügerischer Pyramiden-Unternehmen, bei denen viele Bürger ihre Ersparnisse verloren.
Fluchtwelle teilt Familie
Allerdings wie die DDR erlebt Albanien eine Fluchtwelle. Unzählige Menschen verlassen das Land, viele gen Italien, so auch Leas beste Freundin Eleonora, die schließlich ein trauriges Schicksal ereilt. Auch Mutter Doli geht später mit dem Sohn in den Westen, während Zafo, der als Generaldirektor für die Geschicke des Hafens verantwortlich ist, und seine Tochter zurückbleiben. Aus einem Land, das sich abgeschottet hat, wird ein Land, in dem Massenarbeitslosigkeit und Korruption herrschen. Was ist Freiheit, wenn sie nur von wenigen genutzt werden kann? Diese wiederkehrenden Passagen über diesen oft genutzten Begriff holt den Leser ins Jetzt, lässt ihn Nachdenken über die gegenwärtigen Zuständen.
Ypis autobiografisches Buch umfasst die Jahre 1990 bis 1997. Am Ende wird sie Philosophie und Literatur studieren – und ihr Land verlassen. Ihr Weg führt sie ebenfalls nach Italien, später als Wissenschaftlerin auch nach Frankreich, Großbritannien und Deutschland. „Frei“ entstand in Berlin während der Corona-Pandemie, Ypi schrieb abgeschottet von der Familie in einer „Kammer“, mit den Worten ihrer Großmutter im Kopf, der das Buch auch gewidmet ist. Der Untertitel verweist auf den Begriff, den der US-amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama 1989 in einem Beitrag in der Zeitschrift „The National Interest“ formulierte und dem er sich schließlich in einem viel diskutierten Buch ausführlicher widmete. Darin vertrat er die These, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion und des Ostblockes der Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft durchsetzen wird.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „literaturreich“.
Lea Ypi: „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Eva Bonné; 332 Seiten, 28 Euro
Foto auf Ergys Temali auf Unsplash
Fand ich auch großartig – eines meiner absoluten Lese Highlights 2022.
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Das kann ich verstehen, ein eindrucksvolles Buch, Liebe Grüße nach München
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ja, wirklich bemerkenswert und sehr „lehrreich“!
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Ich habe Dir zu danken, dass Du es mir ans Herz gelegt hast, als ich Dich in der Buchhandlung besucht habe. Liebe Grüße nach Berlin
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das freut mich! liebe Grüße aus Berlin…
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