„(…) doch aus der Perspektive der Tiefenzeit erweist sich Dauer als Illusion.“
Die Urzeit – Welten so fremd wie faszinierend. Als Kind war ich wie wohl jedes Kind beeindruckt von Dinosauriern, ob klein oder groß. Noch immer geistert in meiner Erinnerung ein tschechischer Film herum, den ich einst im Kino im gepflegten Schwarz-Weiß gesehen hatte: „Die Reise in die Urzeit“. Vier Jungen machen sich auf eine Zeitreise zurück in die Erdgeschichte – per Boot, eine Höhle als Ausgangspunkt. Mit seinem Buch „Urwelten“ lädt der schottische Paläontologe und Evolutionsbiologe Thomas Halliday zu einer nicht minder spannenden wie lehrreichen Tour ein und erweckt die Begeisterung für vergangene Welten aufs Neue, wobei er zugleich das Gestern mit dem Heute verbindet und auf den zerstörerischen Einfluss des Menschen aufmerksam macht.
Ein stetiger Wandel
Eine nicht unerhebliche Lektion gibt es gleich zu Beginn des Bandes, der in umgekehrter Chronologie ausgehend vom Pleistozän in 16 Etappen rund 550 Millionen Jahre zurück in das Zeitalter des Ediacarums führt. Um diese immense, fast unfassbare Zeitausdehnung zu erfassen, nutzt er einen Vergleich: Wenn 4,5 Milliarden Jahre der Erdgeschichte ein Tag sind, vollzieht sich die Geschichte der Menschheit, in schriftlichen Quellen erfasst, in den nur zwei letzten Tausendstel einer Sekunde. Unsere Historie ist damit kürzer als ein Atemzug. Das lehrt Demut, vor allem wenn wir wissen, welchen Einfluss wir heute haben. Uns Menschen nennt Halliday eine der größten biologischen Kräfte, wir erreichen, was durch das Zusammenspiel von globalen Prozessen in einem riesigen Zeitraum geschehen war: Immer wieder sind Welten verschwunden, ganze Ökosysteme samt ihrer Flora und Fauna untergegangen. Die Welt war und ist stetig im Wandel. Eis- und Warmzeiten kamen und gingen, Meere entstanden und verschwanden, der Sauerstoff-Gehalt in der Atmosphäre schwankte, ein Riesenkontinent brach auseinander.
Im Verlauf der Zeit gab es Wesen, die aus einem Fantasy-Roman entsprungen sein könnten: meterhohe Pilze, die groteske Gestalt des Tully Monsters, fliegende Reptilien, menschengroße Pinguine. Die Natur kennt keine Grenzen in der Gestaltung. All diese Geschöpfe, ihre erstaunlichen Welten erweckt Halliday zum Leben. Sein Buch ist reich an szenischen bildhaften, manchmal sogar auch poetischen Beschreibungen, man hat den Eindruck, dabei zu sein, als ob die einstigen Lebewesen Teil unserer Welt sind. Der Schotte zählt zu der Riege Wissenschaftler, die das Schreiben wissenschaftlicher Fakten und Zusammenhänge vom Staub befreit, es mit Leben erfüllt. Da grast vor 20.000 Jahren eine Pferdeherde in der weltumspannenden Mammutsteppe, nach dem Einschlag eines riesigen Felsbrockens vor 66 Millionen Jahren in das Meer vor dem heutigen Mexico erheben sich 100 Meter hohe Wellen, der Himmel verdunkelt sich, ein Winter beginnt, der mehrere Jahrzehnte andauert. Am Himmel des Edicariums zeigt sich ein riesiger Mond, der die Erde viel näher umkreist, heller scheint, die Sterne am Firmament sind andere, als wir heute kennen.
„Ein neues Zeitalter beginnt, mit neuen Göttern und neuen Welten. Nach dem Tod des Lebens; nach dem Aussterben die Artenbildung. In den Sümpfen von Laramidia baut die Spinne ihr Netz. Mimatuta kaut träge auf einer frischen Blüte. Es ist Frühling.“
Die Zeitreise in ihren 16 Etappen folgt nach einem bestimmten Muster. Jedes Kapitel stellt eine Fossilien-Fundstätte und eine geologische Epoche vor. Die Tour zurück in ferne Welten ist zugleich eine Reise um unseren Erdball. Angefangen von Alaska und Kenia über die Antarktis, Italien und Russland bis hin nach Südafrika und Australien. Man staunt, dass Fossilien und archäologische Befunde nicht nur über Äußerlichkeiten und das Verhalten der einstigen Lebewesen erzählen, sondern auch Rückschlüsse auf einstige Ökosysteme, das damalige Klima und die frühere Geologie vermitteln können, wobei diese Erkenntnisse auch „Hinweise für unseren Umgang mit unserer gegenwärtigen Welt“ geben, wie der Wissenschaftler an einer Stelle schreibt.
Spezialisiert auf die Evolution der Säugetiere
Thomas Halliday, 1989 geboren, ist Paläontologe und Evolutionsbiologe. Seine Fachgebiete sind die Evolution der Säugetiere sowie die Phylogenetik, die die Abstammung der Lebewesen erforscht. Halliday studierte in Bristol und London. Er hat ein Leverhulme Early Career Fellowship an der Universität von Birmingham inne und arbeitet zudem für das Natural History Museum in London. Für seine wissenschaftliche Arbeit wurde er bereits mehrfach geehrt: 2016 erhielt er die John C. Marsden Medaille der Linnean Society, 2018 gewann er die Hugh Miller Writing Competition.
Zeichnungen von früheren Lebewesen begleiten sein Meisterwerk. Vor jedem Kapitel gibt es eine Illustration, ein Ausschnitt des jeweiligen Schauplatzes sowie Zitate, die weitere Gedankenstöße geben. Der Apparat mit Anmerkungen ist sehr ausführlich. Trotz allem literarischen Schreibens ist und bleibt „Urwelten“ ein wissenschaftliches Sachbuch, das den Leser an manchen Stellen auch fordert, aber vor allem mit reichem Wissen belohnt. In geläufigen biologischen Fachbegriffen (endemisch, kanivor etc.) sollte man etwas sattelfest sein, ansonsten empfiehlt es sich, das Handy in Reichweite zu haben, um gewisse Lebewesen mit ihren lateinischen Bezeichnungen schnell zu googeln.
PS: Wer jetzt nicht nur neugierig geworden ist, dieses Buch zu lesen, dem empfehle ich gern darüber hinaus noch den Band „Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre“ des australischen Biologen und Zoologen Tim Flannery (Insel).
Thomas Halliday: „Urwelten. Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte“, erschienen im Hanser Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Hainer Kober; 464 Seiten, 28 Euro