Auður Ava Ólafsdóttir – „Hotel Silence“

„Die Stille rettet die Welt.“

Seine Frau Gudrun hat ihn verlassen, die gemeinsame Tochter geht eigene Wege, seine Mutter leidet unter Demenz. Jonas Ebeneser hat seinen Lebensmut verloren. Er will seinem Leben ein Ende setzen. Doch nicht zu Hause, in der vertrauten Umgebung, sondern irgendwo in der Fremde. Still und leise verreist er an einen Ort, wo die meisten Menschen ganz andere Sorgen haben. Denn hier herrscht Krieg. Die isländische Schriftstellerin Auður Ava Ólafsdóttir legt mit ihrem Roman „Hotel Silence“ ein stilles melancholisches Werk vor, das allerdings auch Funken von Hoffnung in sich trägt.

Abschied ohne Abschied

Mit einem One-Way-Ticket, einem Werkzeugkoffer, einem Foto seiner Tochter Vatnalilja (Wasserlilie) und seinen Tagebüchern macht sich der 49-Jährige auf den Weg, ohne sich zu verabschieden. Er lässt seine Familie und seinen Nachbar Svanur zurück, von dem er sich zuvor noch eine Flinte ausgeliehen hat. Jonas strandet in einem Land im Ausnahmezustand. Nach einem Krieg herrscht hier Waffenruhe. Menschen trauern um ihre Angehörigen. Es gibt keine Familie, die nicht ein Mitglied aus ihren Reihen verloren hat. Todbringende Landminen liegen genauso unter der Erde wie unzählige Massengräber. Gebäude ohne Fassaden ähneln Puppenhäusern. Es hat schon etwas Bizarres, wenn es Jonas dorthin zieht, womit sich seine Mutter, eine Mathematikerin und Organistin, zeitlebens intensiv beschäftigt hat: den Krieg.

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Im heruntergekommenen „Hotel Silence“ findet Jonas, zugleich Ich-Erzähler des Romans, ein Zimmer. Das Haus am Meer wird von dem Geschwister-Paar Mai und Fifi geführt, das wieder auf Touristen hofft. Auch ihre Familie hat der Krieg ausgelöscht beziehungsweise auseinandergerissen. Mais Mann, der Vater des kleinen Adam, starb. Die Tante, der das Hotel gehörte, floh ins Ausland. Aus dem stillen Gast, der eigentlich sich hier das Leben nehmen wollte, wird ein umtriebiger Helfer, dessen Unterstützung zum richtigen Zeitpunkt kommt. Es fängt klein an, mit ersten Reparaturen in den Zimmern. Er reinigt Rohre, tauscht Glühbirnen aus und setzt Duschen wieder in Gang. Er gewinnt das Vertrauen der Menschen, die im Verlauf des Romans Namen und eine Identität erhalten. Auch ein Restaurantbesitzer bittet ihn schließlich um Hilfe. Jonas wird zu Mister Fix oder Mister Miracle. Wie das Hotel erlebt auch er einen Neuanfang, wenngleich seine Hilfe für ein Frauenhaus von einigen im Ort nicht gern gesehen wird und er Gewalt erfährt.

Ein land ohne Namen

Nie wird an einer Stelle des Romans der Name des Landes genannt. Das Buch ist 2016 im Original erschienen. Es könnte der Balkan-Krieg in den 90er-Jahren sein, es könnte aber auch der ab 2014 beginnende Ukraine-Russland-Konflikt sein. Doch das spielt eigentlich keine Rolle. Denn die Folgen von Krieg und Zerstörung, die Ólafsdóttir deutlich aufzeigt, sind die immergleichen. Schreckliche Ereignisse, mit denen Island nie konfrontiert war. Weder hat es auf dem Boden der nordeuropäischen Atlantik-Insel einen Krieg gegeben, noch hat das Land eine eigene Armee. 2006 verließen die letzten US-amerikanischen Soldaten die Insel. Die Truppen waren im Zuge des Zweiten Weltkriegs stationiert worden.

„Ich verstehe nicht, wie sich in der Gesellschaft so viel Hass aufbauen konnte. Auf einmal hasste jeder jeden.“

„Hotel Silence“ stellt mit Jonas eine Figur in den Mittelpunkt, dessen Leben andere Wege genommen hat, als erhofft. Anhand seiner Tagebücher und Notizen, die er in einer Kiste im Keller gefunden hat, blickt Jonas auf sein Leben zurück: auf den frühen Tod seines Vaters, sein Studium der Philosophie, das er hinschmeißt, um die familieneigene Firma zu übernehmen, auf die Liebe zu Gudrun, die ihm nach der Trennung ein schreckliches Geständnis macht. Ein Grund mehr für ihn, in Schmerz, Trauer und Einsamkeit zu versinken und immer wieder nach dem Sinn zu fragen.

Preisgekrönter Roman

Ein einsamer Held über die Mitte seines Lebens hinaus und ein Land gebeutelt vom Krieg – die Isländerin bringt ein privates Schicksal mit einem großen globalen Thema zusammen. Ein großer Kontrast, der allerdings nicht künstlich wirkt, sondern ineinandergreift und anhand dessen gezeigt wird, welche Rolle und Verantwortung jeder Einzelner übernehmen kann, dass bereits kleine Dinge eine Wirkung haben. Schon in ihrem Roman „Miss Island“ verbindet sie das Leben einer jungen Frau mit gesellschaftlichen Fragen. Auður Ava Ólafsdóttir, 1958 in Reykjavik geboren, zählt zu den angesehensten Schriftstellerinnen ihres Landes. Sie schreibt Romane, Theaterstücke und Gedichte. Ihre Werke wurden bereits in über 25 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Sie lehrt zudem Kunstgeschichte an der Universität Reykjavík und ist Direktorin des Museums der Universität Island.

Für „Hotel Silence“, im Original mit „Ör“ betitelt, erhielt die Isländerin 2016 den Literaturpreis ihres Landes sowie 2018 den renommierten Literaturpreis des Nordischen Rates verliehen. Der Roman, dessen eingängiger Sprachrhythmus Tina Flecken ausgezeichnet ins Deutsche übertragen hat, ist reich an Verweisen: so auf die Philosophen Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger, auf Ernest Hemingway und weitere Autoren und Musiker, die sich entschieden hatten, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Trotz aller Düsternis und Melancholie betont Ólafsdottir Werk die Kraft der Hoffnung und die Magie eines Neufangs, schreibt sie einfühlsam über Wunden und Narben. Ein vielfältiges wie berührendes, an manchen Stellen auch tragikomisches Buch voller Menschlichkeit.


Auður Ava Ólafsdóttir: „Hotel Silence“ , erschienen im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem Isländischen von Tina Flecken, 208 Seiten, 23 Euro 

Foto von Rosen Stoyanov auf Unsplash

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