Alex Schulman – „Endstation Malma“

„Wann weiß man, dass man ein Kind verloren hat?“ 

Zugegeben: Langsam wird er mir ein wenig unheimlich. Bestseller reiht er an Bestseller.  Alles keine schnell dahingeworfenen Geschichten, sondern klug durchdachte Handlungen, die ob ihrer Struktur und ihrer gedanklichen Tiefe verblüffen. Alex Schulman ein Phänomen zu nennen, wäre sicherlich nicht übertrieben. Mit seinen Romanen „Die Überlebenden“ und „Verbrenn alle meine Briefe“ hat er sich nicht nur in seiner schwedischen Heimat einen beachtlichen Bekanntheitsstatus erschrieben. Mittlerweile kommt man hierzulande nicht an ihm vorbei. Kürzlich ist sein neuester Roman „Endstation Malma“ erschienen. Wieder führt er uns in die Abgründe einer Familie.

Zugfahrt als Zeitreise

Bis man allerdings diese Familiengeschichte in all ihren entscheidenen Beziehungen,  Ereignissen und vor allem Tragödien zusammensetzt, braucht es einige Kapitel der Lektüre. Detail für Detail baut sich ein Bild zusammen, in dem drei Handlungsfäden schließlich zusammenfließen. Alle drei haben eine Gemeinsamkeit: eine Zugfahrt nach Malma, eine Stadt unweit von Stockholm gelegen. Dorthin fahren Harriet und ihr Vater, später Oskar und seine Frau und zuletzt Yana, eine junge Frau, die nach dem Tod ihres Vaters in dessen Nachlass ein Fotoalbum findet, das in ihr Erinnerungen an ihre Mutter weckt, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Jede dieser Fahrten gleicht einer Zeitreise, die in die Vergangenheit führt, in der Dramatisches geschehen war. Kleine Dramen wie auch größere. Und keines blieb ohne Folge. Zwischen den einzelnen Zugfahrten liegen Jahre, ja teils Jahrzehnte.

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Schulman, 1976 in Hemmesdynge geboren, ist der Sohn des Produzenten und Journalisten Allan Schulman und der Moderatorin Lisette Schulman sowie Enkel des bekannten schwedischen Schriftstellers Sven Stolpe (1905-1996). Er studierte in Stockholm Filmwissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie. Er schrieb für Zeitungen und Blogs als Kolumnist und Kritiker, war Moderator einer eigenen Talkshow und arbeitet als erfolgreicher Podcaster. Die dunklen Flecken seiner eigenen Familiengeschichte spürt er in den eingangs erwähnten Romanen nach. „Die Überlebenden“ (2020/2021) führt in Schulmans Kindheit, „Verbrenn all meine Briefe“ (2018/2022) erzählt von seinen Großeltern mütterlicherseits. Es geht um Geheimnisse und Gewalt, körperliche wie seelische.

Unüberwindbare Kluft

Mit seinem jüngsten Streich löst er sich vom autobiografischen Feld und stellt erstmals völlig fiktive Figuren in den Raum seiner Geschichte. Seinen Themen bleibt er indes treu: Konflikte und Gewalt, Schweigen und fehlende Nähe führen zu einer unüberwindbaren Kluft zwischen Kinder und Eltern, die weitergetragen wird in die folgende Generation – wie ein Erbfehler, dessen fataler Wirkung man schlichtweg nicht ausweichen kann und der ein Leben auf ein falsches Gleis lenken kann. So weiß Yana weder, was mit ihrer Mutter geschehen ist, noch kennt sie deren Kindheit.

Was sich damals ereignet hat, weshalb ihre Mutter zu jener Person wurde, die sie war – weiße Flecken, die es wohl in vielen Familien gibt. Yanas Mutter war eines Tages einfach weg, und keiner erzählte ihrer Tochter, was wirklich passiert war. Damals in Malma, damals am Haus am See.  Ein totes Kaninchen, das Versprechen eines Vaters, das zu einem Mantra, später zu einem Namen wird – prägende Elemente. Nichts ist in diesem Roman ohne Bedeutung.

„Sie selbst spüre immer öfter, dass sie die Richtung des Weges, auf den sie gestellt worden sei, nicht ändern könne. Sie sei eine Gefangene der Entscheidungen, die andere für sie getroffen hätten, und übertrage lediglich das Gift an die nächste Generation.“

Kleine Erschütterungen sammeln sich Kapitel für Kapitel an. Der Druck wächst, bis schließlich der große Schockmoment kommt. Keiner kann über dysfunktionale Familien und seelische Traumata schreiben wie der Schwede, der auch in seinem aktuellen Roman sein unvergleichliches Talent im Aufbau eines Romans unter Beweis stellt. Was zu Beginn noch getrennt war, fügt sich zusammen. Die Zeiten gleiten ineinander. Alles hängt miteinander zusammen.

Wobei man sich am Ende doch fragt, ob die schulmansche Konstruktion nicht irgendwann ihren Reiz verliert, das Thema Familie im Gegensatz zu gesellschaftlichen Fragen erschöpft sein wird, wenngleich „Endstation Malma“ noch immer diesen Sog spüren lässt, dem man nicht entkommen kann. Wie bei einem Puzzlespiel. Nach und nach erkennt man das Bild, wobei das letzte Stück entscheidend ist. Schulmans oftmals innerlich zerrissene und verletzte Protagonisten sind allerdings keine großen Sympathieträger oder Identifikationsfiguren, die sehr lange in Erinnerung bleiben. Vielmehr beschreibt der Schwede ein tiefgreifendes Muster: das Handeln Erwachsener und dessen Folgen für die Kinder, die schließlich selbst erwachsen werden, wiederum Beziehungen beginnen und Eltern werden. Nichts bleibt ohne Wirkung, und das ist wohl das Erschreckende an diesem großartigen weil tief berührenden Roman.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Mit Büchern um die Welt“, „Denkzeiten“ und „Bücheratlas“.


Alex Schulman: „Endstation Malma“, erschienen in der Verlagsgesellschaft dtv, in der Übersetzung aus dem Schwedischen von Hanna Granz; 320 Seiten, 24 Euro

Foto von Yoav Aziz auf Unsplash

Ein Kommentar zu „Alex Schulman – „Endstation Malma“

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