Louise Kennedy – „Übertretung“

„Wenn Mord zum Alltag gehörte, war es schwer, die Kinder davon zu überzeugen, dass diese Geschichten Unsinn waren.“ 

Es gibt geschichtliche Ereignisse, die sind bekannt, erscheinen einem indes fern. Weil sie außerhalb der eigenen Lebenszeit und örtlich gesehen eher in der Ferne geschehen sind. Der Nordirland-Konflikt zählt zu den weißen Flecken auf meiner Landkarte des Wissens. Zugegeben: Er war weder Thema in der Schule noch habe ich mich näher mit ihm beschäftigt. Bis ich nun jedoch den Roman „Übertretung“ der irischen Schriftstellerin Louise Kennedy in die Hand nahm.

Wenn es um den Menschen geht

Einmal mehr wurde mir während des Lesens klar, dass die bewusste Wahrnehmung und Auseinandersetzung von in der Vergangenheit liegenden politischen wie gesellschaftlichen Ereignissen nicht durch Fakten und Zahlen angeregt wird. Schon im Geschichtsunterricht quälten die trockene Statistik und das „Herunterbeten“ von Jahreszahlen wohl die meisten von uns. Vielmehr wird es dann wirklich fassbar, wenn es um die Menschen geht, die mit den spürbaren Folgen von Ereignissen leben müssen. Und genau daran liegt die große Stärke von Kennedys großartigen Roman.

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Man schreibt das Jahr 1975: Die 24-jährige Cushla Lavery arbeitet als Lehrerin in einer katholischen Schule in einem protestantisch geprägten Vorort von Belfast. Ihr älterer Bruder Eomonn betreibt den elterlichen Pub, in der Cushla regelmäßig aushilft. Der Vater ist bereits vor einigen Jahren gestorben, Mutter Gina ist Alkoholikerin und macht das Dasein ihrer Tochter unnötig schwer. Darüber hinaus stellen zwei andere Personen das Leben der jungen Frau fortan auf den Kopf: Cushla nimmt den kleinen Davey, der in der Schule schikaniert wird und dessen Vater zusammengeschlagen und lebensgefährlich verletzt wurde, treusorgend unter ihre Fittiche. In der Kneipe lernt sie eines Abends zudem Michael Agnew kennen, einen protestantischen, verheirateten und wohlhabenden Anwalt mit gewissem Renommee und Charisma. Trotz der Gegensätze, allen voran der Altersunterschied, beginnen sie eine leidenschaftliche, indes auch von Michael gelenkte Affäre, die sie beide mit allen Mitteln verheimlichen müssen. Nicht nur, um seine Ehe zu schützen.

Aufgeladene Atmosphäre

Die Zeiten in Belfast sind rau. Die Atmosphäre ist aufgeladen. Protestantische Unionisten und katholische Republikaner sind sich spinnefeind. Soldaten patrouillieren durch die Straßen. Unter Autos wird nach Bomben gesucht. Bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Jeder muss aufpassen, was er wo sagt, um nicht zur Zielscheibe zu werden. Und Cushla, ihr Bruder und Michael werden es. Eine Kette furchtbarer Ereignisse nimmt schließlich ihren Lauf, nach denen nichts mehr so ist, wie es einst war. Nicht bei den Laverys, nicht bei den Agnews und auch nicht in Davys Familie. Ausgrenzung und folgenreiche Akte der Gewalt brechen sich Bahn.

„Man hört von solchen Angriffen in den Nachrichten, von Schießereien und Bombenanschlägen. Aber ich glaube, man muss die Einzelheiten hören oder sehen, um das Leid wirklich verstehen zu können.“

Louise Kennedys Werk heimste viel Kritikerlob ein und war für mehrere Literaturpreise nominiert, so unter anderem für den Women Prize for Fiction. „Übertretung“ ist ihr Debütroman. 2021 erschien mit „The End of the World Is a Cul de Sac“ ihr erstes Buch, ein Band mit Erzählungen. Aufgewachsen in Holywood, in der nordirischen Grafschaft Down, war sie 30 Jahre lang als Köchin tätig. Obwohl sie schon als kleines Mädchen Texte schrieb, ist sie 47,  als sie in einer Schreibgruppe das Schreiben für sich wiederentdeckt, um schließlich Kreatives Schreiben an der Queens University in Belfast zu studieren.

drei Jahrzehnte Gewalt

„Übertretung“ macht am Schicksal nur weniger Personen die dramatischen Auswirkungen des Nordirlandkonflikts deutlich, der von 1968 bis 1998 rund 3.600 Menschen das Leben gekostet hat. 47.000 Personen sind in jenen drei Jahrzehnten verwundet worden. Jeder fünfte Nordire hatte im unmittelbaren Umfeld Tote und Verletzte zu beklagen. Kennedys Protagonisten sind nah am Leser, die junge Heldin ist eine Sympathiefigur. Ihr Alltag mit all seinen Herausforderungen wird fassbar. Neben Ausgrenzung und Gewalt verhandelt die Autorin Frauenfeindlichkeit und anhand der Figur des fanatischen Pfarrers das Fehlverhalten der Katholischen Kirche, die die Kluft zwischen den verfeindeten Gruppen noch vergrößert und wenig Menschlichkeit zeigt.

„Übertretung“ ist spannend, berührend und – mit dem Finger stets in der Wunde – vor allem kritisch. Selbst das Bild der Polizei, die in den Schulen eher Disco-Nachmittage veranstaltet als für Prävention zu sorgen, ist wenig rühmlich. Umrahmt wird die Hauptgeschichte von einer Szene, die in das Jahr 2015 führt und eine besondere Wiederbegegnung schildert. Die irische Literatur hat eine neue, großartige Stimme, wenn auch spätberufen, gewonnen. Bleibt zu hoffen, dass bald wieder ein Werk Kennedys erscheint. Dass der Steidl Verlag Perlen der irischen Literatur hierzulande immer wieder sichtbar macht, ist ein großes Glück.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Buch-Haltung“.


Louise Kennedy: „Übertretung“, erschienen im Steidl Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser; 320 Seiten, 25 Euro

Foto von Till Kraus auf Unsplash

8 Kommentare zu „Louise Kennedy – „Übertretung“

  1. Danke für die Besprechung. Der Bürgerkrieg in Irland ist das beste Beispiel für einen Krieg, den keiner wollte, den aber auch keiner verhindert hat. Diese Hilflosigkeit und die vielen unbeteiligten Opfer sind ein Thema, dass man glaube ich nur über die Literatur nachvollziehbar machen kann.

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  2. Danke für die Besprechung, das Buch ist völlig am mir vorbeigegangen. Anna Burns Romane über den Nordirland-Konflikt habe ich gerne, wenn auch mit Bauchschmerzen gelesen. Und danach etliche weitere Texte darüber, denn ich wusste auch quasi nichts über diese Zeit, wie ich feststellen musste.

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  3. Deine Besprechung macht mir große Lust auf dieses spannende Buch. Wir lesen es demnächst im Bookclub und jetzt freue ich mich noch mehr darauf. Ein Hoch auch noch mal auf den Steidl Verlag – die machen einfach wirklich schöne Bücher und haben ein gutes Händchen bei der Auswahl. Liebe Grüße, Sabine

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    1. Dann wünsche ich Dir eine spannende Lektüre und dann einen tollen Bookclub. Der Roman, die Autorin waren schon eine Entdeckung für mich. Und ja, ich stimme Dir da gern zu: Steidl hat wahre Perlen im Programm. Liebe Grüße zurück

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