Sylvain Tesson – „Weiß“

„Der Schnee diktiert der Erde die Gedanken des Himmels.“

Er ist von Sizilien nach Korfu auf den Spuren des Odysseus gesegelt, mit dem Motorrad von Moskau nach Paris gefahren. Er lebte in einer Hütte in den sibirischen Wäldern und suchte den Schneeleopard im tibetischen Hochland. Der Franzose Sylvain Tesson liebt extreme Reisen, extreme Ziele. Und er schreibt darüber. Seine neueste Tour begann nahezu vor seiner Haustür und führt in eine auf den ersten Blick bekannte Welt: Doch die mächtigen Berge der Alpen erlebte er auf eine ganz andere Weise als die meisten von uns.

Entlang des Hauptkamms von West nach Ost

Der Titel seines Buches verrät es vielleicht schon. „Weiß“ ist der meist unberührte Schnee, den Tesson an der Seite des Bergführers Daniel du Lac auf einer Alpenüberquerung sieht, die entlang des Hauptkamms des Hochgebirges von West nach Ost verläuft – in mehreren Etappen von drei bis vier Wochen in den vier Jahren von 2018 bis 2021. Sie beginnen im französischen Menton am Mittelmeer. Ihr Ziel: die italienische Hafenstadt Triest an der Adria. Es geht durch Frankreich, die Schweiz, Österreich, Slowenien und Italien. Fernab der bekannten Skipisten und überfüllten Touristenorte legen sie rund 1.600 Kilometer in Schnee und Eis zurück und überwinden insgesamt etwa 60.000 Höhenmeter.

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Tesson führte akribisch Tagebuch. Jeden Kapitel sind die Orte, die jeweilige Tourenlänge sowie die geleisteten Höhenmeter vorangestellt. Man könnte also auf Tessons und du Lacs Spuren laufen und die Reise nacherleben, wenn es dafür nicht Erfahrung, reichlich Fitness und Ausdauer sowie ein gewisses Maß an Mut und Unerschrockenheit bedarf. Denn die täglichen Wanderungen bei oft auch extremen Bedingungen fordern Kraft und sind gefährlich. Das Duo, das zeitweise vom Ingenieur Philippe Rémoville begleitet wird, überwindet Steilhänge, Felswände, Gletscher sowie Pässe. Lebensbedrohliche Lawinen und Abstürze drohen mehrfach.

Heilung nach Sturz und Trauer

Bekannte Gipfel wie das Matterhorn oder der Mont Blanc begleiten wie stumme riesige Zeugen ihre Reise. Ihr Weg führt sie durch manch verlassenes Bergdorf. In den Hütten, die am Abend schließlich erreicht werden, stellt sich nicht nur eine Erschöpfung, sondern manches Mal auch eine gewisse Erleichterung ein.

Tesson erzählt von Begegnungen mit Menschen und Tieren, schildert auf poetische Weise die schneebedeckte Berglandschaft und welchen Einfluss sie auf seinen Körper und seinen Geist hat. Die Tour ist für ihn Heilung, nach einem schweren Sturz vor einigen Jahren und der Trauer über den Tod einer Tante. Den Schnee, leiser Hauptakteur des Buches, beschreibt er als eine „Substanz“, die eine grafische wie auf ihre wesentlichen Eigenheiten reduzierte Landschaft erschafft, „chinesischen Pinselstrichen“ gleich.

Und nicht nur der Schnee erzeugt in ihm eine innere Ruhe. In dem Reisen zu Fuß liegt eine andächtige wie achtsame Langsamkeit, die uns nahezu verloren gegangen ist – in einer schnellen wie hektischen Zeit, einer reizüberfluteten Welt und einem übersatten Leben, moderne Erscheinungen, die der Franzose kritisch hinterfragt. In einer nahezu verlassenen Landschaft erreichen die Nachrichten der Corona-Pandemie die Wanderer und Bergsteiger kaum. Ein ausgestorbenes Gasthaus im österreichischen Stubaital erinnert an die Verfilmung von Stephen Kings „Shining“.

„Kaum waren die Skier verstaut, brodelt auf du Lacs Gaskocher schon der Veilchentee. Das Bergsteigen: täglicher Wechsel zwischen dem Leben eines Sportlers und dem einer alten Dame.“

Seine Reiseberichte haben Tesson, geboren 1972 in Paris, berühmt gemacht. Er kennt viele der menschenleeren Flecken unserer Erde und hat an mehreren wissenschaftlichen Expeditionen teilgenommen. Für seine Reisebeschreibungen und Essays ist er mehrfach geehrt worden: Für seinen Kurzgeschichten-Band „Une vie à coucher dehors“ (2009) erhielt der studierte Geograf den Prix Goncourt de la nouvelle, für „In den Wäldern Sibirien“ (2011) wurde er mit dem Prix Médicis essai geehrt und mit dem Prix Renaudot für seinen Band „Der Schneeleopard“ (2019). Mittlerweile zählt der Pariser zu den meist gelesenen frankophonen Autoren.

„Die hohen, klaren Stunden halfen bei dieser Übung: auslöschen, was beschmutzt. Weder Groll noch Verdruss bewahren. Weiß bleiben. Weiß wie Schnee.“

Seine Werke sind lebendige, lehrreiche sowie persönliche Reiseberichte, die nicht nur zu speziellen Landschaften führen, sondern auch besondere Geschichte erzählen und sich Kultur und Kunst widmen. In „Weiß“ lernen wir unter anderem den russischen Maler Nicolas Roerich kennen, der unter anderem auch für seine alpinen Berglandschaften bekannt wurde. Tesson verweist auf die Poesie Arthur Rimbauds, den Schriftsteller Stendhal und besucht Sils Maria, wo Friedrich Nietzsche weilte. Sein Band ist reich gefüllt mit Zitaten.

Nach einer 30 Kilometer Wanderung erreichen sie schließlich in Duino eine andere der wirkmächtigen Landschaften für uns Menschen. Das Meer und dessen Blau locken. Wie nah doch oft Berge und Meer zusammenliegen. „Weiß“ wirkt so auf besondere Weise auf den Leser, der nicht nur die Bilder der winterlichen Alpen vor sich haben wird, sondern womöglich auch Ruhe findet und die Sehnsucht nach den Bergen verstärkt spürt.


Sylvain Tesson: „Weiß“, erschienen im Rowohlt Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Nicola Denis; 256 Seiten, 23 Euro

Foto von Henri Picot auf Unsplash

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