Kent Haruf – „Das Band, das uns hält“

„Doch was für ein verschwendetes Leben.“

Colorado. Weites Land. Bergig im Westen, flach im Osten. Zwischen den Rocky Mountains und den Great Plains leben heute etwa 5,8 Millionen Menschen – und Kent Harufs Helden. Alle seine insgesamt sechs Romane hat der US-Amerikaner in der fiktiven Kleinstadt Holt angesiedelt. Mit seinem letzten Roman „Our Souls by Night“, 2017 in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Unsere Seelen bei Nacht“ erschienen, setzte seitdem auch hierzulande eine Würdigung seines literarischen Schaffens ein. Zuletzt erschien nun mit „Das Band, das uns hält“ („That Tie that Bind“) sein Debüt aus dem Jahr 1984 in deutscher Übersetzung.

Als Wiederentdeckung gefeiert

Ich kam zugegeben etwas spät in Harufs Welt, da wurde er schon als besondere Wiederentdeckung gefeiert, die Verfilmung seines Romans „Unsere Seelen bei Nacht“ mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen ein Kassenschlager an den Kinos. Vor wenigen Jahren griff ich schließlich zu seinem Werk „Kostbare Tage“, das der US-Amerikaner noch vor seinem Tod fertigstellen konnte und posthum erschien, kurze Zeit später las ich „Ein Sohn der Stadt“. Seitdem hat er sich still und leise eingeordnet in die Liste meiner Lieblingsautoren. Es gibt wenige Schriftsteller, die mich mit mehreren ihrer Romane so ergriffen haben wie Haruf.

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Nicht anders erging es mir nun mit seinem Erstling. Alles beginnt und endet hier mit Edith Goodnough. Die 80-jährige betagte Frau liegt im Krankenhaus. Von der Polizei bewacht. Weshalb, das erfahren wir am Ende des Romans, der ihre allzu traurige Lebensgeschichte, die Sanders „Sandy“ Roscoe, ein wortkarger Landwirt und zugleich Ediths Nachbar, erzählt. Von der Ankunft von Ediths Eltern in Colorado am Ende des 19. Jahrhunderts in einem Planwagen bis hin zu jener tragischen Entscheidung, die sie ins Krankenhaus brachte. Dazwischen liegt ein einfaches und leidgeprüftes Leben. Schon früh muss sie mit ihrem Bruder Lyman auf der Farm schuften. Als sie 17 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter Ada; vom Leben aufgezehrt. Wenig später verletzt sich ihr Vater schwer. Die Geschwister müssen die Farm über Wasser halten, sind Gefangene ihres despotischen wie arglistigen Vaters, der seiner Frau nicht einmal den letzten Wunsch erfüllen wollte.

Ein LEben ohne Leben

Ihre große Hilfe: Nachbar John Roscoe, Sohn einer Indigenen, der seinen Vater nie gekannt hat. Er wird zu Ediths Beschützer, sie zu seiner großen Liebe. Doch zu einer Beziehung wird es nicht kommen. Edith will die Farm nicht verlassen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg nutzt, sich aus dem Staub zu machen. 20 Jahre wird er fortan durchs Land, von Stadt zu Stadt ziehen. Sein einzigen Lebenszeichen in all jener Zeit an die daheim gebliebene Schwester: Postkarten samt 20-Dollar-Noten, die Edith sammelt. Die Jahre vergehen. Edith lebt weiterhin auf der Farm. Johns Sohn Sandy kümmert sich mittlerweile um sie und geht ihr tatkräftig zur Hand, ein besonderes Erbe, das er auf sich nimmt. Und während Sandys Tochter, die kleine aufgeweckte Rena, zu ihrem Lichtblick wird, werden Lymans Wesensveränderung und seiner Aggressionen zur extremen Belastung für die nunmehr in die Jahre gekommenen Frau.

„Wenn ich auf unsere Geschichte zurückblicke, kommt sie mir manchmal vor, als wäre sie genau das gewesen: eine Reihe von unzusammenhängenden Furchen. Manche dehnten sich über vier oder fünf Jahre aus, andere über zwanzig, aber es waren trotzdem Furchen, eine Ansammlung ausgetretener Kuhpfade, die gelegentlich zu einem Gewässer, einer kurzen Verschnaufpause und vielleicht an einem Leckstein vorbeiführten (….).“

Harufs Debüt ist weit entfernt von der bekannten Landidylle. Die Arbeit ist hart und zermürbend, die Familie eine einzige Schlangengrube, aus der die Heldin nicht entweichen kann oder auch will. Die Welt wird sie nie sehen, die Freuden des Lebens bleiben ihr weitestgehend verwehrt. Das Familienleben mit Kindern und Enkeln spielt sich in der Nachbarschaft bei den Roscoes ab, wenngleich sie nicht frei sind von Schicksalsschlägen. Tragödien und das harte Leben als Farmer schweißen Edith und die Roscoes auf lange Zeit zusammen.

Provinz als Schauplatz

Haruf erzählt von einem Landstrich, der ihm wohlvertraut ist. Er kam 1943 in Pueblo/Colorado als Sohn eines methodistischen Pfarrers zur Welt. Nach seinem Studium übte er verschiedene Tätigkeiten aus, arbeitete unter anderem als High-School-Lehrer, später unterrichtete er Literatur an Hochschulen. Für seine Romane erhielt er mehrere Preise, so den Dos Passos Prize und den Folio Prize. Für „Lied der Weite“ war er 1999 für den National Book Award nominiert. Nach seinem Tod wurde in seiner Heimatstadt Salida ein Literatur-Festival zu seinen Ehren ins Leben gerufen.

„Denn wenn man Menschen ein Leben lang kennt, versucht man zu verstehen, wie es für sie ist. Was man nicht versteht, akzeptiert man einfach.“

Bereits in seinem Debüt ist die große Meisterschaft seiner späteren Werke angelegt. Haruf schreibt über die bedeutenden Fragen des Lebens anhand der „kleinen Leute“ in einer einfachen, klaren nahezu hypnotischen Sprache. Nicht die Metropole, sondern die Provinz, in der jeder jeden kennt, macht er zum Schauplatz, an dem er sechs Romane lang festhält. Ein eigener literarischer Kosmos mit markanten Protagonisten entsteht, wobei Haruf vor allem die vom Leben gebeutelten guten Seelen mit sehr viel Zuneigung und Hingabe begleitet.

„Das Band, das uns hält“ lässt einen nachdenken über den Sinn und den Wert eines Lebens. Ediths Lebensgeschichte, aber auch die von John und Sandy rühren nicht nur zu Herzen. Sie lassen sinnieren über die Kraft, die es braucht, um zu entscheiden und letztlich zu handeln. Und die Frage, was uns festhält an einem Leben ohne Leben.


Kent Haruf: „Das Band, das uns hält“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Roberto de Hollanda; 320 Seiten, 25 Euro

Foto von Intricate Explorer auf Unsplash

4 Kommentare zu „Kent Haruf – „Das Band, das uns hält“

  1. Ich habe bislang noch nichts von Kent Haruf gelesen, du hast mich aber auf jeden Fall neugierig gemacht. Welches seiner Bücher würdest du mir für den Einstieg empfehlen? Liebe Grüße, Sabine :)

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    1. vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Sabine. Du kannst die Romane vom Debüt bis zu seinem letzten Roman der Reihe nach lese, aber Dir auch eines einfach herausgreifen. Ich würde Dir seinen Erstling und „Kostbare Tage“ schon einmal sehr empfehlen. Es sind eigentlich voneinander getrennte Geschichten, auch wenn Holt immer der Schauplatz ist. Liebe Grüße zurück

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