
Sein Ziel ist das Land des Eises, auch wenn der legendäre Wikinger Erik der Rote der großen Insel hoch oben im Norden den Namen „grünes Land“ gegeben hat. Auf Grönland herrschen nicht nur die Kälte und die Dunkelheit in der langen Winterzeit. Die Sitten sind andere als in seiner Heimat Dänemark. Das wird dem angehenden Pfarrer und Sohn eines norwegischen Schulleiters Morten Falck schnell bewusst, als er nach einer mehrwöchigen strapaziösen Schifffahrt den Westen der Insel erreicht. Doch es sind nicht die rauen Sitten der Ureinwohner Grönlands, die den jungen Missionar bei seiner Ankunft erschüttern. Vielmehr wird in den kommenden Jahren der Geistliche, der eigentlich den Beruf eines Mediziners erlernen wollte, mit den unmenschlichen Verhalten der dänischen Kolonialherren gegenüber den Ureinwohnern konfrontiert.
Die Inuits sind keine Menschen. Das liest man mehrmals in dem aktuellen Roman „Ewigkeitsfjord“ des Dänen Kim Leine. Denn genau diesem Thema, das Aufeinanderprallen zweier verschiedener Kulturen und die Herrschaft einer den vorherrschenden Lebensbedingungen eher unangepassten Kultur, widmet sich sein Werk, für das der Schriftsteller, Sohn dänischer Eltern und wie sein Held in Norwegen geboren, jüngst mit dem Preis des Nordischen Rates geehrt wurde.
Man schreibt das Jahr 1782. Falck erreicht die dänische Kolonie Sukkertoppen im Westen Grönlands. Seine Aufgabe ist es, die Ureinwohner zum christlichen Glauben zu bekehren, die alteingesessene Naturreligion zu vertreiben. Doch er erkennt schnell, dass seine Religion vor Ort kein Zeichen der Nächstenliebe ist, sondern vielmehr probates Mittel, um die Herrschaft zu stabilisieren. Da Falck den Ureinwohnern zugetan ist, fällt er schnell in der Gunst in der Kolonie, in der unzumutbare Zustände herrschen: die Trunksucht wird zelebriert, die Ureinwohner werden unterdrückt und für niedere Arbeiten missbraucht, die Vergewaltigung der Frau des Kolonialkommandanten durch den Schmied verschwiegen, die gelieferten Vorräte reichen hinten und vorne nicht. Leichtes Spiel für ernsthafte Erkrankungen, wie Skorbut.Ein Kollege Falcks in der Nachbarkolonie Holsteinborg vergreift sich öfters an jungen grönländischen Frauen. In diesem Zweikasten-System ist Falck mit seiner Menschlichkeit ein Anderer, er steht zwischen den Stühlen. Er fördert den Sohn seines Katecheten Bertel, der Sohn einer Grönländerin und eines Dänen, lernt später auch die abseits gelegene Siedlung eines Ehepaares, das christliche Religion mit ihrer Naturreligion verbunden hat, kennen und schätzen. Falck ist selbst einer Grönländerin zugeneigt.
In diesem Roman kann es keinen Platz für ein wirkliches Happy-End geben. Falck zeigt sich nach einigen Jahren zermürbt von den Zuständen und kehrt in sein Heimatland Norwegen zurück. Um jedoch nach einer Zwischenstation in Kopenhagen, wo in jener Zeit ein Brand große Teile der Stadt vernichtet, schließlich wieder die Segel in Richtung Grönland zu setzen. Die Ureinwohner seien seine Brüder im Geiste, heißt es an einer Stelle.
Wer den Missionar bei seinem Studium in Kopenhagen und den anschließenden Jahren auf Grönland begleiten will, braucht jedoch ein gutes Nervenkostüm. Denn der Roman lebt vor allem von seinen sehr detailfreudigen, geradezu sinnlichen Beschreibungen. Da riecht es sowohl nach Waltran und Robbenspeck als auch nach der eisigen klaren Luft, finden sich an vielen Stellen recht eindeutige Beschreibungen des Geschlechtslebens und der bitteren Gewalt. Dies alles wird noch prägnanter mit der Wahl der Zeitform des Erzählens: Leine hat sich für das Präsens entschieden und bindet den Leser noch enger an das Geschehen. Mit seiner klaren Botschaft wirbt er für Respekt für das Leben und die Kultur der grönländischen Ureinwohner und kritisiert damit die Überheblichkeit und Tugendlosigkeit der dänischen Kolonisatoren. In der Gestaltung des umfangreichen Personenensembles hätte man sich allerdings weniger Schwarz-Weiß-Malerei gewünscht, allzu sehr sind Grönländer und Dänen in ihrer Mentalität etwas starr gezeichnet. Zudem hätte die grandiose Naturlandschaft mehr Gelegenheit für poetische Beschreibungen geboten. Trotzdem: „Ewigkeitsfjord“ bleibt mit seiner Vielzahl an Geschichten ein wunderbar erzählter Roman wie in seinem Anliegen ein wichtiger Beitrag, den man wie seinen ruhelosen und sympathischen Helden so schnell nicht aus dem Kopf bekommt.
„Ewigkeitsfjord“ von Kim Leine erschien im Hanser-Verlag, in der Übersetzung aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
640 Seiten, 24,90 Euro
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