Rückkehr nach dem Schrecken – Irène Némirovsky "Feuer im Herbst"

„Das Kriegsgebiet hatte die Männer gepackt, hatte sie zermahlen, und diejenigen, die noch nicht gefressen worden waren, gab es nur ungern wieder her.“

Beide ziehen in den Krieg. Martial als gestandener Arzt mit Unwillen, Bernard als 18-jähriger Jungspund mit reichlich Euphorie. Martial lässt seine Ehefrau Therese zurück, die er kurz vor dem Einzug in die Armee geheiratet hatte, Bernards Eltern können ihren Sohn nicht halten. Wie Europa mit Jubel den Beginn des Ersten Weltkrieges feiert, um später nach einer beispiellosen Vernichtung von Menschen und Land Millionen von Opfern zu betrauern – darüber gibt es bekanntlich viele Bücher.

Irène Némirovskys Roman „Feuer im Herbst“ schildert indes die weitere Geschichte und knüpft so ein rund 30 Jahre umfassendes zeitliches Band zwischen beiden Kriegen. Schauplatz ist Paris, wo Therese lebt. Sie ist die Person, die beide Männerschicksale zusammenfügt. Vor ihrer übereilten Heirat mit Martial, ihrem Cousin, lebte sie bei Vater und Großmutter. Nur wenige Monate nach Kriegsbeginn fällt ihr Mann in Flandern durch eine Granaten-Einschlag. Bernard kehrt indes aus dem Schrecken zurück, ein anderer Mann geworden, der außer Luxus, Genuss und Geld wenig braucht. Er wird in krumme Geschäfte verwickelt, legt sich mit der Frau seines Gönners eine Geliebte zu. Sein Lotterleben, die Jagd nach dem schnellen Geld und die Aufsässigkeit gegenüber der älteren Generation verwundert selbst Bernards Eltern, die ihren Sohn noch als schüchternen und ernsten Burschen in Erinnerung haben. Einzig und allein Therese hält zu Bernard, in den sie sich verliebt hat. Sie heiraten später, bekommen Kinder. Die Beziehung zu Renée der Geliebten nimmt Bernard jedoch wieder auf. Die Scheidung droht. Mit der Rezession bricht indes sein Geschäft zusammen. Er kehrt zu Therese und den Kindern zurück, um wenig später wie sein Sohn Yves in den Zweiten Weltkrieg zu ziehen.


All diese Beziehungen, verschiedenen Generationen und Schicksale in den Jahren zwischen zwei Kriegen breitet Nemirovsky auf nicht einmal 300 Seiten aus. Trotz des für ein solch gewichtiges Thema eher geringen Umfanges gelingt es der Autorin an der Dreiecksgeschichte von Therese, Bernard und Martial die große Weltgeschichte zu beschreiben, wie der einzelne Menschen von den gesellschaftlichen und politischen Wirren ergriffen und verändert wird, wie er den Zeiten des Schreckens um das Leben kämpft. Alle sind nach diesen Jahren gezeichnet. Selbst der egozentrische Bernard, der im Zweiten Weltkrieg in deutsche Kriegsgefangenschaft gerät. Dort beginnt sein Umdenken, sein endgültige Abkehr vom schnellen Vergnügen, dem Geld und der Macht. Er erkennt, dass Reichtum nicht reich macht, er womöglich mit seinen Geschäften einen unumstößlichen Fehler begangen hat.

Obwohl Némirovsky Therese in den Mittelpunkt ihres Buches stellt, führt sie den Leser auch in die Gedankenwelt der Männer, beschreibt die Stimmungen an der Front, die Möglichkeiten, die erlebten Gräuel zu verarbeiten. Ihr gelingt dies auf herausragende Weise mit Hilfe des Gedankenstroms, der nichts verheimlichen kann. Ihre Sprache ist poetisch, kurz und pointiert. Man hat das Gefühl, kein Wort ist überflüssig, jedes Wort passt zu den anderen. Entstanden ist ein sehr berührendes Meisterwerk, das sich nicht nur einordnen kann, sondern einordnen sollte in die Reihe großer Literatur des 20. Jahrhunderts – nicht nur als Frauen-, sondern vielmehr als Gesellschaftsroman und zeitgeschichtliches Dokument.

Irène Némirovsky hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. 1903 in Kiew als Tochter eines jüdischen Bankiers geboren, kommt sie als Jugendliche nach Frankreich, wo sie an der Sorbonne Literaturwissenschaft studiert. Ihre Werke erregen in der damaligen Zeit Aufmerksamkeit, um nach dem Krieg indes in Vergessenheit zu geraten. 60 Jahre später werden ihre Bücher wiederentdeckt, als ihr unvollendeter Roman „Suite francaise“ schließlich 2005 in Frankreich erscheint. Das Buch konnte sie nicht zu Ende schreiben. Am 13. Juli 1942 wird die Schriftstellerin verhaftet, wenig später nach Auschwitz gebracht, wo sie einen Monat später völlig entkräftet stirbt. Ihr Mann Michel wird in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Die beiden Töchter Denise und Elisabeth überleben – versteckt in einem Kloster und später in Höhlen und Kellern. Bei ihnen – das Manuskript von „Suite francaise“. „Feuer im Herbst“ war ihr letzter vollendeter Roman.

„Feuer im Herbst“ von Irène Némirovsky ist im Knaus Verlag erschienen, in der Übersetzung aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Die Taschenbuch-Ausgabe veröffentlichte der btb-Verlag.

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