
Eine Buchbesprechung sollte immer dem Objekt angemessen sein. Über einen Klassiker in der schönsten Jugendsprache voller Anglizismen und Abkürzungen zu schreiben, würde dem Sprachgefühl des Autors wohl nicht gerecht werden. Ein Manga-Comic in Form eines Sonetts zu besprechen, ist auch der falsche Weg. Aber im Falle dieses Buches, um das an dieser Stelle geht, müsste ich Karten zeichnen, an den Seiten mit krakeliger Handschrift Kommentare versehen und lange Pfeile ziehen. Damit stoße ich jedoch an die Grenzen meiner Möglichkeiten. Deshalb versuche ich trotz allem, „Die Karte meiner Träume“ von Reif Larsen in der bekannten Art und Weise vorzustellen. Und zwar (leider) nur mit Worten.
Tecumseh Sparrow Spivet, nach einem berühmten Indianer und einem ebenfalls bekannten, indes kleinen Vogel benannt und von allen nur T.S. genannt, lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester Gracie auf der Coppertop-Ranch in Montana. Statt seinem wortkargen und griesgrämigen Vater bei der täglichen Arbeit mit den Pferden und der Farm zu helfen, zeichnet der Zwölfjährige Karten, macht Beobachtungen und Messungen. Er ist anders als sein Bruder Layton, der vor einiger Zeit bei einem Unfall mit dem Gewehr tragisch ums Leben kam.
Mit Hilfe eines Wissenschaftlers und Freundes der Familie veröffentlichen bekannte wissenschaftliche Zeitschriften und Zeitungen die Zeichnungen des Wunderkindes. Eines Tages erhält T.S. einen Anruf. Der Junge soll den renommierten Baird-Preis des Institutes Smithsonian in Washington erhalten. Doch da gibt es ein Problem. Wie soll er heimlich in die Hauptstadt kommen, nahezu den ganzen amerikanischen Kontinent von West nach Ost, mehr als 2400 Kilometer hinter sich bringen? Denn die ganze Familie weiß von seinem großen Talent nichts. Selbst seine Mutter – Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Insektenkunde – ahnt nichts von den verborgenen Eigenheiten ihres Sohnes. Und auch das Smithsonian glaubt, dass sich hinter ihrem aktuellen Preisträger ein Erwachsener verbirgt. Eines Tages rafft sich T.S. auf und beginnt eine Reise. Mehrere Stunden hat er zugebracht, seinen Koffer mit dem für ihn nötigen Equipment zu packen. Ein Spatzenskelett, Kompass und Notizbücher müssen mit. Doch die Tour ist gespickt mit besonderen und gefährlichen Erlebnissen. So trifft T.S. einen Vertreter der Hobos, die auf Güterzügen durch die Lande reisen, in Chicago wird er von einem irren Prediger schwer verletzt. In der Hauptstadt angekommen, wird er im Smithsonian von Mr. Jibsen, dem Leiter für Gestaltung und Illustration, empfangen. Zwar zuerst etwas ungläubig, aber im Laufe der Zeit nutzt er das Talent des Wunderkindes aus, um selbst in die Schlagzeilen zu kommen. Doch das missfällt T.S., der in Washington Bekanntschaft mit einer mystischen Vereinigung, dem Megatherium-Club, macht.
Hält man das Buch zum ersten Mal in der Hand, ahnt man schon, die Reise mit T.S. und seine Abenteurer werden dem als Leser richtig viel Spaß machen. In den Händen hält man ein großformatiges Buch, dessen Innenleben verziert ist mit Karten und Skizzen, mit Kommentaren des Helden und Pfeilen, die den richtigen Weg von der jeweiligen Textstelle zu der passenden Zeichnung zeigen. Trotz dieser Nebentexte gelingt der Einstieg in dieses andere Lesen relativ schnell. Denn die Kommentare am Rand einer Seite haben nicht nur die Aufgabe, die Geschichte zu illustrieren. Sie umfassen vielmehr Rückblicke des Helden auf frühere Erlebnisse, Gedanken oder bieten interessante Fakten zur Geografie, Geschichte und Natur des Landes.
Denn „Die Karte der Träume“ ist viel mehr als nur die unheimliche spannende, ja auch an vielen Stellen verrückte Story eines Wunderkindes. Der Debütroman des Amerikaners Reif Larsen, Jahrgang 1980, öffnet Tore zu ernsten Themen. Da ist zum einen der bekannte Konflikt zwischen Eltern und Kind und die traurige Geschichte über den frühen Tod des Bruders, den alle Familienmitglieder auf ihre Weise verkraften müssen. Vor allem im letzten Drittel findet man zudem sehr oft Gedanken zu den Unterschieden zwischen einem Kind und einem Erwachsenen. Larsen bezieht dabei eindeutig eine Position: Er favorisiert die Neugierde, Entdecker- und Lebenslust eines Kindes. Die Großen zeichnet er vor allem mit Blick auf die elitäre Riege der Wissenschaftler, auf die T.S. während der Preisverleihung trifft, als arrogant, oberflächlich und faul. Außerdem spielt der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft sowie die Forderung nach Toleranz und Chancengleichheit eine Rolle.
Mit T.S. schließt man schon zu Beginn Freundschaft. Er wirkt mit seinem wunderbaren Humor, seiner Ehrlichkeit und liebenswürdigen Weisheit, aber auch mit seiner Melancholie und seinem Mut rundherum sympathisch. Seine Reise gleicht einer Odyssee mit vielen Wagnissen und Überraschungen in einem unbekannten Land, die fantastische, nahezu bizarre Züge annimmt. So ist das Buch ein herrliches Abenteuer mit vielen ernsten und herausfordernden Facetten – für ältere Jugendliche und Erwachsene zugleich. Es ist eines jener speziellen Romane, die den Weniglesern einen besonderen Weg zur Lesefreude offenbaren wird. Und mit der wunderbaren Gestaltung wird der Roman zu einem besonderen Schatz im Bücherregal, den man getrost an andere empfehlen und von Generation zu Generation weiterreichen kann. Denn es ist unvergleichlich. Auf die Verfilmung, die am 10. Juli in die deutschen Kinos kommt, kann man gespannt sein. Kein Geringerer als der Regisseur von „Die fabelhafte Welt der Amelie, Jean-Pierre Jeune, hat sich an den literarischen Stoff gewagt.
Der Roman „Die Karte meiner Träume“ von Reif Larsen erschien mit der Übersetzung von Manfred Allié und Gabriele Kempf Allié im Fischer Verlag.
464 Seiten, Preis: 12,95 Euro
2 Kommentare zu „Spatz auf Abwegen – Reif Larsen "Die Karte meiner Träume"“