Schmerzvolle Erinnerungen – Elliot Perlman „Tonspuren“

„Sie wissen nie, welche Verbindungen zwischen Dingen, Menschen, Orten und Ideen bestehen. Aber es gibt  Verbindungen. Sie wissen nur nicht wo. Die meisten wissen nicht mal, wo sie suchen sollten, oder was daran überhaupt interessant sein könnte. Wer schaut auch nur hin? Wer hat Zeit, zu schauen? Wessen Angelegenheit ist das eigentlich, hinzuschauen? Unsere.“

Der eine ist ein Erzähler, der andere sein geduldiger Zuhörer. Henry Mandelbrot ist Patient einer New Yorker Krebsklinik. Lamont Williams arbeitet für den Gebäudedienst des Krankenhauses. Der eine ist polnischer Jude und Überlebender des Vernichtungslagers Auschwitz, der andere ein Afroamerikaner, der nach einer mehrjährigen Haftstrafe mit dem Klinik-Job eine zweite Chance erhalten hat. Henry erzählt Lamont vom Grauen in Auschwitz, der so zum Bewahrer der Geschichte wird. Erinnerungen sind das große Thema in Elliot Perlmans Roman „Tonspuren“, in dem Menschen erleben, wie Geschichte ihre Gegenwart und Zukunft beeinflusst.

Der Leser lernt neben Henry Mandelbrot und Lamont Williams auch den Historiker Adam Zignelik kennen; auch er ist jüdischer Abstammung. Sein Vater hat als Jurist für eine Bürgerrechtsorganisation gearbeitet, die sich für die Rechte der amerikanischen Afroamerikaner eingesetzt hat. Adam erkennt, dass sein Leben vor tiefgreifenden Veränderungen steht. Er ahnt, dass er in Kürze seinen Job als Dozent an der Columbia-Universität verlieren wird. Aus dieser Unsicherheit heraus trennt er sich von seiner Frau Diana, die wie aus allen Wolken fällt. Doch William, ebenfalls Jurist, Verfechter der Bürgerrechte sowie Vater seines besten Freundes Charles, gibt ihm mit der Idee für ein neues Forschungsprojekt zugleich Auftrieb: Adam soll beweisen, dass schwarze Soldaten der US-Armee an der Befreiung von Konzentrationslagern beteiligt waren. Während seiner Recherche stößt der Wissenschaftler indes in Chicago auf die Arbeit des aus Polen stammenden jüdischen Psychologen Henry Border. Er interviewte nach dem Zweiten Weltkrieg sogenannte „displaced persons“, vor allem Überlebende der Konzentrationslager. Seine Gespräche mit den Zeitzeugen hat er auf Tonbänder gebannt. Adam erkennt in Border einen der Mitbegründer der „oral history“ als neue Methode der Geschichtswissenschaft.

Perlman, 1964 in Melbourne geboren und in Deutschland bekannt geworden mit dem wunderbaren Roman „Sieben Seiten der Wahrheit“, bringt in seinem aktuellsten Werk zwei große Themen der Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammen: das Leid der afroamerikanischen Bevölkerung infolge des tagtäglichen Rassismus in den USA sowie die Verfolgung und Vernichtung der Juden während der Zeit des Nationalsozialismus. Verbindendes Element beider Themen ist dabei die Auffassung des Theologen Dietrich Bonhoeffers (1906 – 1945), der als Stipendiat am Theological Seminary in New York Zeuge des Rassismus wurde und später zurück in Deutschland zugleich das Grauen im Dritten Reich erlebte. Er meinte, dass es zwischen den Schwarzen und den Juden in Hinblick auf deren Gewalterfahrungen Parallelen gibt.

„Die Frau, mit der Border sprach, war eine Überlebende des Holocaust, bevor es diese Bezeichnung in irgendeiner Sprache auf der Erde gab. Von allen Sprachen, die seit Anbeginn der Zeit geboren wurden, verfügte keine, nicht eine einzige über ein Wort, um zu bezeichnen, was diese Frau war, oder was sie gerade erlebt hatte. Keine dieser Sprachen hatte jemals so ein Wort benötigt.“

Doch dies ist nicht die einzige Verknüpfung innerhalb dieses fulminanten Romans. Der australische Autor verwebt sowohl die große Geschichte mit den Menschen als auch die Schicksale zwischen den Menschen. Ein grandioses, weil dicht gestricktes Werk entsteht, das nicht nur den Leser an die Charaktere und ihre Lebensgeschichte bindet, sondern mit grauenvollen Szenen aus dem Vorhof der von Menschen gemachten Hölle ungemein schmerzhaft ist. Detailliert beschreibt der Erzähler von den entsetzlichen Geschehnissen in den polnischen Ghettos und im Vernichtungslager, die nicht nur durch die kühle Maschinerie und Struktur des Dritten Reiches, sondern auch durch den menschenverachtenden Hass jedes Einzelnen entstehen konnte. Vor allem die Szenen in der Gaskammer, wo Mandelbrot als Mitglied des Sonderkommandos „arbeiten“ musste, oder die Brutalität und Kaltblütigkeit, mit der SS-Schergen jüdische Kinder und Frauen töteten, bringen das damalige Grauen in das Hier und Jetzt.

Nichts soll vergessen werden, war die Hoffnung und Forderung all jener, die diese Jahre nicht überlebt haben. Die Überlebenden wie Mandelbrot und Border, der noch vor dem Dritten Reich in die USA gegangen war, jedoch seine Frau nach einer überstürzenden Trennung in Polen zurückließ, erhalten als Erzähler und Sammler ihrer Erinnerungen eine wichtige Aufgabe. Wie auch Lamont und Adam als Zuhörer eine ebenso bedeutende Funktion bekommen. Trotz dieser großen Themen der Geschichte verliert Perlman nie das Schicksal seine Protagonisten aus den Augen. Für nahezu jeden hat er eine Lebensgeschichte geschrieben; und nicht nur für die Hauptpersonen. Da ist unter anderem Callie, die Bedienstete in Borders Haus und Nanny von dessen Tochter Elise. Sie schafft es, mit ihrem neuen Job hinaus aus der Enge des Schwarzen-Ghettos Chicagos. Ihr Mann und Vater ihres Sohnes Russell wurde einst von einem wütenden Mob Weißer getötet. Und nicht zu vergessen all jene, die Adam nach dem Fund der Tondokumente in Chicago sowie in Australien ausfindig machen kann und die ihm von Borders besonderes Lebenswerk berichten.

Diese Geschichte und Geschichten – Perlman hat zum geschichtlichen Hintergrund der Bürgerrechtsbewegung und zu den Ereignissen in Auschwitz aufwendig recherchiert – werden durch die Protagonisten selbst und durch einen Erzähler nahe gebracht – in einem stetigen Wechsel aus Szenen, Orten und handelnden Personen. Den roten Faden verliert man indes nie; vielmehr entsteht eine ganz subtile Spannung, die ungemein fesselt. Nach knapp 700 Seiten kommen alle Fäden der Geschichte,  die sich von den 1930er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit spannt, zusammen, werden alle Verbindungen offen gelegt. Am Ende entsteht ein großes Gefühl, der Leser eines brillanten weil berührenden wie tiefgreifenden Romans gewesen zu sein. „Tonspuren“ ist ein großes und mahnendes Erinnerungswerk, das hoffentlich viele Leser findet.

Der Roman „Tonspuren“ von Elliot Perlman ist bereits als Taschenbuch erhältlich, erschienen im btb-Verlag in der Übersetzung aus dem Englischen von Grete Osterwald; 704 Seiten, 12,99 Euro

9 Kommentare zu „Schmerzvolle Erinnerungen – Elliot Perlman „Tonspuren“

  1. Die „Tonspuren“ stehen schon geraume Zeit in meinem Regal der ungelesenen Bücher. Schon den Romane über die „Sieben Seiten der Wahrheit“ fand ich ganz klasse. Ich wollte die „Tonspuren“ immer lesen, wenn ich im Urlaub mal so richtig viel Lesezeit habe, damit ich mich so ganz auf das dicke Buch einlassen kann. Und dann haben sich doch immer dünnere dazwischengedrängelt. Nun, nach Deiner so begeisterten und begeisternden Besprechung, nehme ich mir den Roman aber ganz fest für die Weihnachtsfeiertage vor.
    Viele Grüße, Claudia

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    1. Vielen Dank für den Kommentar, liebe Claudia. Ja, ich kenne das „Problem“. Manche sehr guten Bücher sind im unteren Drittel des Buchberges. Aber irgendwann kommen auch diese ans Tageslicht. Bei mir ist es auch immer stimmungsabhängig, was ich lese. Und ich mag es auch nicht, wenn zwei oder drei Bücher aus dem selben Land aufeinanderfolgen. Es sollte eine gute Mischung ergeben und die Themen und Genres variieren. Viele Grüße

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