Rückkehr ohne Vater – Marceline Loridan-Ivens „Und du bist nicht zurückgekommen“

„Wie etwas übermitteln, was wir uns selbst kaum erklären können.“

Wer die Hölle überlebt, kehrt nicht zurück ins Leben. Bis heute und sicherlich über die folgenden Generationen hinaus wird der Holocaust eine schmerzende Wunde sein, die nicht verheilen wird und kann. Unzählige literarische Werke widmen sich dieser Zeit, die viele vergessen wollen, gar verleugnen, doch einige niemals begreifen werden ob der Ungeheuerlichkeit und des Ausmaßes dieses Verbrechens. Mit „Und du bist nicht zurückgekommen“ hat die französische Schauspielerin und Dokumentarfilmerin Marceline Loridan-Ivens ein persönliches Erinnerungsbuch geschrieben, das schmal von Umfang und Gestalt ist, jedoch eine außerordentliche Wirkung hat. Es ist ein Brief, den sie an ihren Vater schreibt – 70 Jahre nachdem er in Auschwitz ermordet wurde, während sie das Grauen überlebt hat.

Marceline ist 15, als sie mit ihrem Vater Froim Rozenberg 1944 in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wird. Sie werden getrennt: Er kommt nach Auschwitz, sie nach Birkenau. Ein Brief ihres Vaters, den ein Mithäftling ihr heimlich zusteckt, sowie zwei Begegnungen auf dem Weg zu einem Arbeitseinsatz (Steine klopfen, Gruben ausheben) sind die letzten Kontakte zwischen Vater und Kind. Was auf dem Zettel gestanden hat, hat das Mädchen vergessen. Das Gedächtnis verweigert sich bis heute. Während die Rote Armee weiter nach Westen vordringt, Marceline mit weiteren Häftlingen von KZ zu KZ geschickt wird, nahe Leipzig in einer Fabrik für Flugzeugteile arbeiten muss und letztlich in Theresienstadt die Ankunft russischer Soldaten erlebt, schafft es ihr Vater, ein gebürtiger Pole, nicht. Erst drei Jahre nach Kriegsende erhält die Familie von den französischen Behörden die offizielle Todesnachricht. Wie er umgekommen war, ist unbekannt.


In ihrem Brief an den Vater schreibt sie ihre Erinnerungen nieder: an die Verhaftung, die Deportation, das Grauen. Die Autorin verschweigt entsetzliche Szenen nicht, die sie einst als Jugendliche erlebt hat. Sie sieht ein kleines Kind, das sich, auf dem Weg in die Gaskammer, an einer Puppe festhält. Ein gleichaltriges Mädchen wird vor ihren Augen mit dem Gewehrkolben erschlagen. Eine stetige Bedrohung und Angst herrschen, der Tod ist überall, nur wenige Minuten, die SS oder Lagerarzt Mengele können darüber entscheiden. Millionen Menschen erleben dieses Leid in Auschwitz und weiteren Lagern, die als Todesfabriken auf einem nüchternen System aufgebaut sind. Auch diese Struktur, die ganze Menschenströme verschlingt, die tagtäglich mit Zügen die Lager erreichen, beschreibt Loridan-Ivens. Und diese Zeit hat bei ihr Spuren hinterlassen, nicht nur die Nummer, die ihr am Unterarm eintätowiert wurde. Sie ist seitdem nicht mehr gewachsen, ihre Schuhgröße erinnert an ein Kind. Die Zehen sind noch immer taub. In der ersten Zeit nach der Rückkehr vermag sie es nicht, in einem Bett zu schlafen.

Mehrere Zeitebenen des Rückblicks vermischen sich und schaffen ein dichtes Gewebe aus Erinnerungen, Reflexionen sowie persönlichen Worten an den Vater, dessen Herkunft, Träume und Wünsche die Tochter ebenfalls erzählt. Amerika war sein eigentliches Ziel. Frankreich sollte indes seine Heimat werden, wo er sich ein Schloss kauft. Die Familie durchzieht ein Riss, der die Daheimgebliebenen von den KZ-Überlebenden trennt. Vor allem zur Mutter bleibt das Verhältnis kühl und angespannt. Am Mantel des Schweigens weben sowohl Franzosen als auch Juden, die von den Geschehnissen nichts wissen wollen oder das Leben so schnell es geht wieder aufnehmen. Dass der Name des Vaters in das Kriegerdenkmal des Heimatortes eingraviert wird, allerdings ohne den Zusatz des Sterbeortes, ist dafür ein Zeichen. Das Leben von Marceline wird an der Seite des bekannten Filmemachers Joris Ivens (1898 – 1989) und durch weite Reisen, so unter anderem nach China, zu einem bunten, erlebnis- und ereignisreichen, das jedoch von einer gewissen Melancholie und Trauer überdeckt wird. Der Verlust des Vaters wiegt schwer. Auch ein gewisses Schuldgefühl und jene Frage nach dem Recht auf Leben, wenn so viele vernichtet worden sind, belasten.

„Wenn ich mit dir spreche, tröste ich mich nicht. Ich mildere nur, was mich beklemmt.“

Doch was die Autorin immer wieder indirekt zum Ausdruck bringt, ist ihr unbändiger Lebenswille, der sie unzählige Gefahren und Bedrohungen überstehen ließ. Eine Eigenschaft, die bereits der Vater in ihr erkannt und mit einer Prophezeiung auch mitgeteilt hat: Sie würde überleben dank ihrer Kraft. Diese beweist sie unzweifelhaft auch im Niederschreiben dieses Briefes, der all das Erlebte und den Schmerz an die Oberfläche holt.

Doch nicht minder schmerzvoll und bedrückend ist die Lektüre für den Leser, gerade für jene, die sich mit diesem Thema aus unterschiedlichen Motiven heraus beschäftigen und damit eben nicht dieses Kapitel der Vergangenheit abschließen wollen, wie so manche es wünschen gar fordern. „Und du bist nicht zurückgekommen“ ist ein bedeutendes und erschütterndes Erinnerungsbuch von einer der noch lebenden Zeitzeuginnen und das neben den Erinnerungen an dieses unermessliche und noch immer unbegreifliche Verbrechen vor allem eines deutlich macht: dass dieses Leid über Generationen weitergetragen wird. Wenn „Schindlers Liste“ als Film auf seine Art als zeitloses Dokument und Meisterwerk besteht, trifft dies auch für das Buch von Marceline Loridan-Ivens zu. Ihm sind viele beeindruckte Leser zu wünschen, die wiederum den Band weiterempfehlen.Denn auch so bleibt Geschichte für kommende Generationen mehr als nur ein Zahlen- und Faktenwerk, sondern erzählt vom Leben und dem Leid von Menschen.

Der Band „Und du bist nicht zurückgekommen“ von Marceline Loridan-Ivens (mit Judith Perrignon) erschien im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Eva Moldenhauer;  111 Seiten, 15 Euro

6 Kommentare zu „Rückkehr ohne Vater – Marceline Loridan-Ivens „Und du bist nicht zurückgekommen“

    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ja, ich frage mich auch, wie in einigen Jahren und Jahrzehnten sich eine authentische Erinnerung zu jener Zeit gestalten wird. Da werden solche Bücher eine große Rolle spielen, denke ich. Womöglich fällt auch den Nachkommen eine wichtige Rolle zu, die die Erinnerungen ihrer Eltern und Großeltern in irgendeiner Form erhalten. Viele Grüße

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      1. Die Zeitzeugen sterben zwar aus: Aber mit wie vielen von ihnen sprechen wir tatsächlich? Wer interessiert sich noch für sie und ihren „Mist“ von gestern? Eine kleine Minderheit behaupte ich. Wird sich deswegen etwas ändern? Die Erinnerungskultur basiert doch jetzt schon bereits, fast ausnahmslos auf Medien, die als Speicher dienen …

        Im Übrigen, wird bereits viel experimentiert, was die geschichtliche Vermittlung angeht. Augmented Reality und andere Formen versprechen einiges. Ich dagegen ziehe am meisten aus dieser Holocaust-Literatur …

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  1. Vielen Dank für Deinen interessanten wie umfangreichen Kommentar. Ich stimme Dir da zu. Und ich wollte in dem Beitrag auch anklingen lassen, dass dieses Thema von vielen (willentlich) vergessen wird, ja, dass dann oft der Vorwurf kommt, es wäre Geschichte und man habe nichts mehr damit zu tun. Ein fataler Gedanke! Weil der Umgang mit Geschichte uns ja bekanntlich vieles lehrt. Allen voran Menschlichkeit.

    Ich glaube, dass gerade in solchen Zeitzeugnissen eine große Bedeutung liegt. Und auch die Nachkommen der Überlebenden werden sicherlich künftig eine besondere Rolle erhalten. Viele Grüße

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  2. Herzlichen Dank für diese Empfehlung. Was mir in jungen Jahren anfänglich unverständlich blieb und ich erst allmählich mit den beschriebenen Erinnerungen der Überlebenden schockierend begriffen habe, ist der Aspekt des Schuldgefühls der Überlebenden. Auch Du merkst an, dass sie „auch ein gewisses Schuldgefühl und jene Frage nach dem Recht auf Leben, wenn so viele vernichtet worden sind“, belastet.

    Es hat bei mir gedauert, bis ich verstand, warum die Situation des Lagers, der Gefangenschaft damals wie heute das Gewissen der Überlebenden belastete. Die Lagerinsassen waren in sich eine eigene hierarchische Gesellschaft, in der jeder tagtäglich darum kämpfte, den aktuellen Tag zu überleben. Und das schaffte man oft nur auf Kosten der anderen Mitgefangenen. Man drängte sich vor oder versteckte sich, man betrog, stahl, denunzierte, organisierte sich in elitäre Grüppchen etc. pp..

    Eine Geschichte eines Überlebenden (die ich leider nicht mehr finde) ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Er war als Junge von ca. 10 Jahren im Lager. Jeden Morgen gab es den Rapport, bei dem man vollständig bekleidet sich aufstellen musste. Zur Kleidung gehört auch eine Mütze. Eines Morgens war seine Mütze verschwunden. Der Schrecken war riesig, denn man wusste, dass schon dies dazu führen konnte, sofort erschossen zu werden. In seiner Panik entschloss er sich, in einem unbeobachtet Moment von einem anderen Gefangenen die Mütze zu stehlen. Er sollte mit seiner Befürchtung recht behalten und musste miterleben, wie der Bestohlene mit dem Tode bestraft wurde, weil er keine Mütze hatte. Mit dieser offenkundigen, konkreten Schuld musste er nun weiterleben und sich als Überlebender noch Jahrzehnte quälen.

    Bei fielen mag es nicht ein solch offensichtlicher Akt mit konkreter Folge gewesen sein, doch jeder ahnt, dass er hier und da etwas zu seinem Vorteil getan hat, z. B. geschwiegen, gelogen oder sich versteckt.
    Wie perfide ist das, wenn die Opfer sich in solcher Situation plötzlich als Täter, als Schuldige erachten, obwohl die unmenschliche Tat doch von ganz anderen begannen bzw. verantwortet wurde.

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    1. Vielen Dank für diesen Kommentar, Thomas. Ich glaube, das Schuldgefühl liegt womöglich auch in der Ursache begründet, dass trotz des so perfide geplanten Mechanismus‘ in den Lagern oftmals der Zufall oder ein unvorhergesehenes Ereignis zwischen Überleben und Tod entschieden haben. Das von Dir angeführte Beispiel bestätigt es ja auch, denke ich. Trotz dieses riesigen Schmerzes angesichts der Verluste und der schrecklichen Erlebnisse finde ich es dann immer wieder erstaunlich, wie viel Kraft die Überlebenden für die Gestaltung ihres Lebens hatten. Vor allem. wenn sie dann über ihre Erlebnisse berichtet haben, obwohl gerade damit die Erinnerungen zurückgekehrt sind. Viele Grüße

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