„Siehe nun zu, daß du in der Komödie deines eigenen Lebens eine Rolle zu spielen anfängst. Gut, antworte ich mir. Und dann nahm ich hier Platz.“ Knut Hamsun „Mysterien“
Mit einem ersten Blick in ihre Lebensgeschichten unterscheiden sie sich mehr, als dass sie sich ähneln. Der eine stammt aus Irland, der andere aus Norwegen. Der eine mag die Romantik, der andere den Naturalismus. Doch Oscar Wilde (1854-1900) und Knut Hamsun (1859-1952) verbinden zwei besondere Erfahrungen: Beide sind als junge Männer nahezu zur selben Zeit nach Amerika gereist, beide standen später vor Gericht. Der homosexuelle Wilde wegen Unzuchts, Hamsun wegen Landesverrats. Er hatte im hohen Alter deutliche Sympathien gegenüber dem Dritten Reich gezeigt, seine Nobelpreismedaille sogar Reichspropagandaminister Joseph Goebbels geschenkt. Danach ist ihr Leben nicht mehr das, was es einmal war. Matthias Engels bringt beide großen Autoren in einem wunderbaren Roman zusammen.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf mit der Schiffsfahrt der beiden Herren. Während der bereits bekannte Ire auf der SS Arizona mit allen Annehmlichkeiten den Atlantik überquert, reist der Norweger bescheiden in der dritten Klasse an der Seite weiterer Auswanderer aus Skandinavien auf der MS Oder Richtung Westen. Wilde steht eine Vortragsreise über Ästhetik bevor, auf Hamsun wartet keiner. Er wird sich in den nächsten Monaten mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs über Wasser halten, um dann ernüchtert die Heimreise zurück nach Europa anzutreten. Mit seinem Buch „Hunger“ wird er sich schließlich einen Namen machen und sein Schaffen 1920 mit dem Literaturnobelpreis für seinen Roman „Segen der Erde“ krönen.
Bis heute ist der Blick auf das Leben und Schaffen Hamsuns ein recht zwiespältiger. Denn wie können seine Werke eingeordnet, ja bewertet werden, wenn er Jahre später seine Sympathie für den Nationalsozialismus offenbart? Selbst sein Heimatland benötigte einige Zeit, um sich seinem großen Literaten wieder zuzuwenden. Nach der Verurteilung wegen Landesverrats hatten die Norweger seine Werke boykottiert, mancher Roman landete sogar in den Flammen. Dabei zählt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Hamsun, der sich nach oben geschrieben hat, zu jenen Autoren, die die Literatur der Jahrhundertwende maßgeblich beeinflusst haben. Berühmte Schriftsteller wie Thomas Mann, Franz Kafka oder Arthur Schnitzler bewunderten Hamsun. Er war nach Tolstoi einer der ersten Autoren, die den sogenannten „stream of consciousness“, auch Bewusstseinsstrom genannt, als besondere Erzähltechnik angewandt haben.
Dabei widmet sich Engels nicht nur dem Aufstieg und dem Fall sowie dem Liebesleben beider „wundersamer Herren“. Der gelernte Buchhändler und heute in Westfalen beheimatete Autor von Romanen und Gedichten lässt auch die damalige Zeit lebendig werden. Er beschreibt die Neue Welt mit ihrer rasanten Entwicklung, an der die Erfindung der Glühbirne und des Telefons sowie der Bau der Eisenbahn maßgeblichen Anteil haben. Für viele Auswander ist Amerika das gelo
bte Land. Doch letztlich erwartet sie ein riesiger Kontinent, der durchaus auch seine Schattenseiten hat. Hamsun und Wilde werden Ausbeutung beziehungsweise den Rassenhass erleben. Während der Lektüre der ersten Kapitel gewinnt man den Eindruck, dass die Reise und gesammelte Erfahrungen beide Autoren maßgeblich beeinflusst haben. Die Suche nach Schönheit und Ästhetik wird später in Wildes berühmtestes Werk „Das Bildnis des Dorian Gray“ einfließen. Armut und Hunger sind die Themen von Hamsuns Meisterwerk „Hunger“. Neben den zwei Schriftstellern finden weitere große Namen wie August Strindberg oder Henri de Toulouse-Lautrec Erwähnung: Denn beide gehen ein und aus in den Künstlerkreisen von London beziehungsweise Paris. Die vielfältigen Beziehungen zwischen den Künstlern, die Gruppen, die sich vor allem in den europäischen Metropolen einst angesiedelt hatten, ist ein ungemein spannendes Thema, nicht nur in Hinblick auf die Frage, wer wen mag oder womöglich nicht leiden konnte, sondern wer wen künstlerisch beeinflusst hat.
Engels hat für sein Werk aufwendig recherchiert. Das wird nicht nur mit der Literaturliste am Ende des Buches deutlich. In die Erzählhandlung sind Briefe, Zeitungsartikel und Exkurse eingebettet, die die Lektüre sehr bereichern und abwechslungsreich gestalten. Jedes Kapitel wird zudem mit dem Datum, den geografischen Koordinaten und kurze Hinweise auf die Wetterlage eingeleitet. Doch ein ganz spezieller Charakter des Buches erscheint besonders faszinierend: In einem Nachwort macht der Autor darauf aufmerksam, dass nicht jede Episode, jeder Fakt der Wirklichkeit entspricht, „vielmehr nimmt er sich die Freiheit, mit den (oft widersprüchlichen) Quellen zu spielen und diese zu einem So-könnte-es-gewesen-sein zuzuspitzen“. Fiktion verbindet sich mit der Realität. Diese Mischung weckt im Leser die Neugierde und das Interesse, sich mehr mit der Biografie der beiden Autoren auseinanderzusetzen. Spannend ist, dass dieses Spiel mit Quellen und der eigenen Fantasie seit einigen Jahren literarisch gepflegt wird. Michael Köhlmeiers Roman „Zwei Herren am Strand“ über die Freundschaft zwischen Winston Churchill und Charlie Chaplin oder Michael Kumpfmüllers Werk „Die Herrlichkeit des Lebens“ über Kafkas große Liebe sind zwei weitere Beispiele.
Der Abstieg und das Ende von Wilde und Hamsun lassen beim Leser letztlich eine gewisse Betroffenheit entstehen. Während Wildes Fall mehrere Jahre andauerte, mit der gleichgeschlechtlichen Beziehung zu Lord Alfred Douglas seinen Anfang nahm und schließlich mit Zuchthaus, Exil Armut und Krankheit seinen Abschluss fand, erlebte Hamsun das Aus der Karriere recht abrupt im hohen Alter mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des Dritten Reiches. Beide haben große Werke geschaffen, die heute zu den Klassikern gehören. Doch beide haben auch erkennen müssen, dass selbst ein großer Name keinen Schutz vor Schmach bietet.
Der Roman „Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun“ von Matthias Engels erschien im Verlag Stories & Friends; 448 Seiten, 19,90 Euro
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