„Ich hatte tatsächlich gesagt, dass es manchmal gerade die Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit sei, die einen dazu bringe, Schuld auf sich zu nehmen.“
Es ist ein Rückzugsort, abgeschieden und ruhig gelegen: die Hütte am Fluss. Dorthin flüchtet der Deutschlehrer Anton, wenn er die hektische Welt hinter sich lassen will. Gemeinsam mit seinem Lieblingsschüler Daniel verbringt er hier Stunden, Tage, ganze Wochen; skeptisch beobachtet von Wanderern oder Schaulustigen, die sich dem Gelände nähern. Jahre später erschrecken eine Bombenattrappe auf dem Bahnhof sowie zwei Bombendrohungen die Einwohner der nahe gelegenen Provinzstadt. Auf einem Fahndungsfoto glaubt Anton, seinen Schüler wieder zu erkennen.
In seinem aktuellen Roman „Eine Ahnung vom Anfang“ lässt Norbert Gstrein den Lehrer Anton nicht nur über die enge Beziehung zu seinem Schüler erzählen. Eine gereizte, leicht bedrohliche Stimmung erwächst aus der Suche nach dem Täter und mit der gestellten Frage, welche Rolle der Einfluss des Lehrers auf Daniels Charakter gespielt hat. Denn der als Sonderling bekannte Jugendliche, den Mitschüler Jesus nannten, fand im religiösen Glauben Halt und eine gewisse Perspektive. Als Schüler nahm er an einer Gruppenreise nach Israel teil, später kommt er in Kontakt zu einem amerikanischen Missionar, der als Sohn eines ehemaligen Kriegsveterans angesichts der bevorstehenden Endzeit verirrte Seelen retten will, zum Kampf für Israel aufruft. Anton versorgt Daniel mit Lektüre. Es sind Bücher, die einst Antons Bruder Robert gelesen und gesammelt hatte. Noch nach dem Schulabschluss bleibt ein loser Kontakt zwischen Lehrer und Schüler bestehen, sucht Daniel zwischen Auslandsaufenthalten und mäßig bezahlten Gelegenheitsjobs eine Art Einkehr in der Hütte am Fluss.
Nach der Bombendrohung versucht der Pädagoge herauszufinden, wie Daniel zu dem werden konnte, der er ist. Zeitgleich berichtet er der Polizei, dem Direktor der Schule und seiner Vertrauten Agata von seiner Vermutung. Anton steht zwischen den Seiten. Mit Erinnerungen wandelt er in vergangenen Zeiten. Nach und nach stößt er bei Gesprächen mit Lehrern und Freunden auf ihm unbekannte Details. Da ist Christoph, mit dem Daniel den Sommer am Fluss verbracht hat, und da ist Judith, in die beide Jungen verliebt waren und die mittlerweile Mutter eines Sohnes und Antons Kollegin ist. Vieles kommt ans Tageslicht, auch eine aggressive Stimmung, die aus Gerüchten, Mutmaßungen und Vorwürfen entsteht und durch die Anton ins Visier gerät. Auch die lokale Presse hat ihre Finger im Spiel und mischt kräftig mit. Eine doppelte Belastung für Anton, der selbst ein großes Päckchen zu tragen: Sein Bruder Robert nahm sich nahe der Hütte am Fluss mit Hilfe einer Schrotflinte das Leben, seine Lebensgefährtin Barbara trennte sich von ihm, als die Schüler-Lehrer-Beziehung, in der die Öffentlichkeit eine homoerotische Bindung vermutet hat, besonders eng war. Innerhalb dieser persönlichen Krise gewährt er sich mit dem Segen der Schule eine Auszeit und unterrichtet zwei Jahre an einer Österreichischen Schule in Istanbul.
„Er blies in seinen Kaffee und sagte, wie schwer es sei zu leben, wenn man nichts habe, wofür man sich vorstellen könne zu sterben.“
„Eine Ahnung vom Anfang“ ist ein Roman über die Macht von Büchern und die Macht von Gerüchten. Denn keiner kann sich gewiss sein, welche Auswirkung sie letztlich haben. Auch Anton weiß es am Ende nicht, wie viel Anteil er selbst als eine Art Einsiedler und Mentor hatte, dass aus Daniel ein der Welt abgewandter Mensch und zugleich von seinem religiösen Eifer Getriebener werden konnte, der im bisherigen Leben keinen festen Lebenspfad findet – trotz seiner Intelligenz. Mit der Provinzstadt und dem abgeschiedenen und idyllischen Gelände am Fluss hat Gstrein zwei Orte geschaffen, die sich in ihrem gegensätzlichen Charakter gegenüberstehen. Der Lehrer wird, nachdem etwas Ruhe in den Fall eingekehrt ist, eine Entscheidung treffen und zugleich ein Kind finden, das er seine ganze Aufmerksamkeit schenken kann.
Gstrein, der 1961 in Tirol geboren wurde und heute in Hamburg lebt, stand mit diesem Werk 2013 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises – in jenem Jahr wurde Terézia Mora für ihren Roman „Das Ungeheuer“ geehrt – und erhielt den Anton-Wildgans-Preis. Sein Buch zeichnet sich dabei nicht nur durch einen sehr genauen und einfühlsamen Blick auf eine besondere Schüler-Lehrer-Verbindung aus. Den Roman sollte keiner lesen, der eine aus überraschenden Wendungen und Geschehnissen bestehende und damit spannend zu bezeichnende Handlung erwartet. Die Erzählgeschwindigkeit gleicht vielmehr einem breiten Fluss, der mit konstanter Geschwindigkeit sacht dahinfließt und eher durch seine Tiefe erstaunt. Gstrein lotet sehr subtil und sprachlich auf höchstem Niveau menschliche Bindungen und Stimmungen, die Vergangenheit und Gegenwart seiner Figuren aus. Das macht „Eine Ahnung vom Anfang“ zu einem Roman, der sehr betroffen macht und mit seinen speziellen Charakteren und ihrer alles verbindenden Geschichte beeindruckt.
„Eine Ahnung vom Anfang“ von Norbert Gstrein erschien 2013 im Hanser Verlag und in diesem Jahr im Deutschen Taschenbuch Verlag; 360 Seiten, 9,90 Euro
Foto: pixabay.com
Liebe Constanze, dieses Buch liegt schon eine ganze Weile hier auf meinem Stapel..jetzt lege ich es ganz nach oben :)
Viele Grüße,
Friederike
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Liebe Friederike, da wünsche ich Dir eine schöne Lesezeit und bin gespannt auf Deine Meinung. Viele Grüße
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