„Von all den Lektionen, die ich in den Monaten mit Mabel gelernt habe, ist dies die wichtigste: dass es da draußen eine Welt voller Dinge gibt – Felsen und Bäume und Steine und Gras und alles, was kriecht, läuft und fliegt. Sie stehen alle für sich, doch wir machen sie uns begreiflich, indem wir ihnen Bedeutungen verleihen, die unsere eigenen Weltanschauungen stützen.“
Auf der Suche nach einem klugen Spruch über die Natur – passend zu diesem Beitrag – werde ich im Internet sehr schnell fündig. Viele kluge Menschen, Dichter, Denker, Wissenschaftler, haben viele eindrucksvolle Sätze zu diesem Thema hinterlassen. Sie handeln von ihrer Einmaligkeit, ihrer Vielfalt und Vollkommenheit, von ihrer Weisheit. All diese ehrenden Attribute lassen sich auf ein Buch anwenden, das in den vergangenen Monaten zahlreiche Preise erhalten hat und einen Reigen lobender Besprechungen nach sich gezogen hat: „H wie Habicht“ von Helen Macdonald.
Alles beginnt mit einem Schicksalsschlag. Helens Vater, ein gefragter wie beliebter Fotograf und Journalist, stirbt nach einem Herzinfarkt. In die Trauer und den Erinnerungen an die Vergangenheit, das besondere Verhältnis zwischen Vater und Tochter, mischt sich auch der einstige Wunsch, eine Falknerin zu werden. Helen entscheidet sich, einen Habicht zu erwerben und ihn selbst abzurichten. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass es sich bei dem Geschehen nicht um eine Fiktion handelt. Die Heldin ist zugleich die Autorin des Bandes, die darin ihre eigenen Erlebnisse erzählt. Der Titel des Buches ist deshalb auch doppeldeutig zu verstehen; dazu aber später mehr.
Zu ihrem Vater hatte Helen Macdonald ein sehr enges und vertrautes Verhältnis. Er war Vater, Freund und Komplize, wenn die beiden auf gemeinsame Entdeckungstouren in die Natur gegangen sind. Umso mehr wiegt der Verlust. Helen versinkt in eine tiefe Trauer und kann nicht verstehen, dass sich die Welt in ihrer Ruhelosigkeit weiterdreht, während sie selbst diese schmerzende Lücke fühlt. Sie zieht sich in ihre eigene Welt zurück, in dem Mabel, das Habicht-Weibchen, das sie von einem nordirischen Züchter erhalten hat, schließlich eine spezielle Rolle zufällt. Der Vogel und die kommenden Wochen und Monate des Abrichtens – in den Fachkreisen Abtragen genannt – bringen Helen wieder zurück in die reale Welt, obwohl zu Beginn dieses Prozesses ihre Konzentration auf dem Vogel liegt, sie dadurch ihre wissenschaftliche Karriere als Historikerin vernachlässigt und nach dem Vertragsende als Dozentin in Cambridge vor einer ungewissen Zukunft steht.
„Was den Habicht selbst anging, glaubte ich nicht eine Sekunde daran, dass ich eine Wahl hatte. Der Habicht hatte mich gefangen. Nicht umgekehrt.“
Dieses Buch lebt besonders durch seine intensiv beschriebenen Szenen, in denen die Autorin die besondere Beziehung zu Mabel und die Schritte der Zähmung schildert. Trotz der Trauer und die innere Anspannung ob des Bewusstseins der Verantwortung und eines möglichen Scheiterns findet sich dabei immer ein leiser, sehr warmherziger Humor. Wie sie die verschiedenen Gemütszustände des Vogels beschreibt – von Angst über Behaglichkeit bis hin zur Mordlust – beweist besondere Beobachtungsgabe und ein beeindruckendes Wissen über das Wesen dieser Tiere. Eingebettet sind diese Momente des Zusammenwirkens von Mensch und Tier in eindrucksvolle Landschaftsschilderungen. Gemeinsam mit Mabel wird sie zu einem Teil der Natur und sieht die Landschaft mit deren Augen. Es ist ein Luftholen, ein aus der Zeit fallen – auch für den Leser.
Der Tod ist indes auf der Jagd ein stetiger Begleiter, der an die Vergänglichkeit jeden Lebens gemahnt. Die Autorin geht diesem schweren Thema nicht aus dem Weg, sondern setzt auf eine bewusste Konfrontation. Immer wieder holt sie deshalb auch ihre Erinnerungen an den Vater zurück, seine Liebe zum Fotografieren, seine Faszination für Flugzeuge. Wer in der letzten Zeit selbst einen schweren Verlust erlebt hat, wird von diesem einzigartigen, poetischen wie vielschichtigen Buch sehr berührt werden – weil die Energie des Buches nicht aus der Vorstellungskraft schöpft, sondern aus der Authentizität persönlicher Erfahrungen. „H wie Habicht“ reiht sich fortan ein in meine Schar besonderer Herzensbücher und wird so oft es geht weiterempfohlen, weil es nicht nur Preise und lobende Besprechungen verdient hat, sondern auch die Liebe und Begeisterung vieler Leser.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Binge Reading & More“.
„H wie Habicht“ von Helen Macdonald erschien bei Allegria, einem Verlag der Ullstein Buchverlage, in der Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer; 416 Seiten, 20 Euro
Foto: pixabay.com
Eines der schönsten Bücher des Jahres. Ich brauchte viel Zeit dafür, da ich die Sprache so wunderbar fand und es auch immer wieder tief berührt aus der Hand legen musste …
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Ich konnte das Buch gar nicht aus der Hand legen. Es ist ein wunderbares Gefühl, ein Buch zu lesen, das einen so festhält und einen so bereichert. Viele Grüße
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Ich weiß nicht … ich schleiche immer um dieses Buch herum, aber irgendwie schreckt es mich ab, und ich habe keine Ahnung warum …
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Vielleicht gibt es ja mal einen passenden Zeitpunkt. Manche Bücher brauchen einfach den richtigen Moment. Da sollte man auf sein Bauchgefühl vertrauen. Viele Grüße
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Das ist auch eines meiner Lieblingsbücher des zu Ende gehenden Jahres.
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Ich hoffe nur, Helen Macdonald schreibt bald wieder ein Buch. Dass sie es wunderbar kann, hat sie ja bewiesen. Viele Grüße
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