Überleben – Anthony Marra „Die niedrigen Himmel“

„Unter der Wolkendecke sahen ferne Städte und Dörfer winzig aus. Angreifer wie Angegriffene klammerten sich an ihre Handvoll Erde, aber am Ende lebte die Erde länger als die Hände, die sie umschlossen.“

Nahezu abseits unserer Gedankenwelt gab es einen Krieg, dem wenig später ein weiterer folgte. Bis heute erfährt Tschetschenien wenig Aufmerksamkeit – wie wohl eine Vielzahl jener Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Selbstständigkeit errungen haben.  Die Republik im Nordkaukasus wurde gleich zweimal von Krieg und Elend (1994 – 1996/1999 – 2009) getroffen. In seinem Debüt-Roman „Die niedrigen Himmel“ erzählt der Amerikaner Anthony Marra vom Leid der Bevölkerung und ihrem Kampf ums Überleben. 

In der Auseinandersetzung zwischen der russischen Armee und den tschetschenischen Rebellen ist es egal, ob man Kind oder Erwachsener, Soldat oder Zivilist ist.  Als ihr Vater Dokka von den Föderalen verschleppt wird und das gemeinsame Haus angezündet wird, kann sich die kleine Hawah nur retten, in dem sie sich im Wald mit einem Koffer versteckt. Achmed, der Arzt im Dorf, Nachbar und Freund der Familie, bringt das Mädchen in Sicherheit – in dem Krankenhaus in der nahe gelegenen Stadt Woltschansk. Dort versucht Sonja das Menschenmögliche, um als einzige Chirurgin verletzten Kriegsopfern das Leben zu retten und sie zu versorgen. Nur die schon in die Jahre gekommene Krankenschwester Deshi steht treu an ihrer Seite. Sonja nimmt Hawah, die bereits einige Jahre zuvor ihre Mutter verloren hat, zuerst nur widerwillig auf und fordert von Achmed, dass er sie trotz seiner geringen medizinischen Fähigkeiten unterstützt.

Dies ist der Auftakt eines Romans, der auf grandiose Weise von Menschen und ihren Lebensgeschichten  erzählt. Da ist Chassan, ein Historiker, der im Zweiten Weltkrieg in der russischen Armee gekämpft hat, nach einem Stalin-Erlass mit seiner Familie von Tschetschenien nach Kasachstan zwangsumgesiedelt wurde, um später mit den Überresten seiner Eltern wieder zurückkehren zu können. Sein monumentales Werk, eine umfangreiche Historie seines Heimatlandes, erfährt nie die Beachtung, die es verdient. Sein Sohn Ramsan wird gemieden, weil er ein Spitzel ist, die Einwohner des Dorfes an die Föderalen verrät. Achmed pflegt seine todkranke und bettlägrige Frau. Dokka, dem nach einem Aufenthalt in der sogenannten Deponie, Gefängnis und Folterkammer zugleich, die zehn Finger fehlen, nahm vor seiner Verschleppung zahlreiche Flüchtlinge in seinem Haus auf und bot ihnen für eine kurze Zeit Obdach.  Die Ärztin Sonja, die nach einem Auslandsaufenthalt in Schottland zwischen den beiden Kriegen nach Tschetschenien zurückgekehrt war, vermisst und sucht ihre Schwester Natascha.

Um all diese verschlungenen Beziehungen zwischen den Personen zu erzählen, nutzt Marra Rückblenden. Der Erzähler springt zwischen den Zeiten, wobei der Rahmen der erzählten Zeit sich zwischen den Jahren 1994 und 2004 spannt. Das Geschehen, nachdem Hawahs Vater gekidnappt wurde, erstreckt sich auf nur wenige Tage. Während das Mädchen in der Klinik verbleibt, läuft Achmed täglich die Kilometer zwischen Stadt und Dorf. Trotz der Gefahren, die von tückischen Landminen ausgehen oder der Skepsis von Ramsan, der auf der Suche nach dem Mädchen ist. Daraus ergibt sich eine außergewöhnliche Spannung. Aber auch die Schicksale der Charaktere sind äußerst dramatisch. So beispielsweise jenes von Natascha, die während der Abwesenheit ihrer großen Schwester allein im Krieg zurückbleibt, wenig später die Flucht nach Europa antritt, um schließlich in die Fänge von brutalen Zuhältern zu geraten. Dabei werden nicht nur Vergangenheit und Gegenwart beleuchtet.  Mit einem erzählerischen Trick blickt der Leser zudem in die Zukunft einiger Charaktere. Die ungemein intelligente Struktur des Buches lässt an ein Kaleidoskop erinnern, das schließlich ein aus vielen kleinen Einzelteilen zusammengesetztes Bild ergibt. Warum Dokka verschleppt wird und in welcher besonderen Beziehung die verschwundene Natascha und Hawah zueinander stehen, wird in den letzten Kapiteln erzählt.

„In Achmeds Kopf dröhnte der Schock darüber, wie wenig schockiert er war. Was Ramsan gesagt hatte, leuchtete ihm ein. Er verstand, warum die Föderalen ein Kind umbringen wollten. Diese Erkenntnis wurde begleitet von einer zweiten, ebenso beschämenden: Dieser unbegreifliche Krieg würde ihm selbst die Menschlichkeit nehmen, das unbegreiflich zu finden.“

So wie Marra das Leben der Protagonisten sehr detailreich erzählen lässt, so informativ und hintergründig sind die Schilderungen über den Zustand des Landes. Ruinen prägen das Stadtbild von Woltschansk. Es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser, obwohl das Land mit seinem Erdöl-Vorkommen ein modernes hätte sein können. Um an wichtige Medikamente und medizinische Ausrüstung zu kommen, pflegt Sonja mit einem Mann  Geschäfte zu machen, dessen Bruder sie einst vor dem Tod bewahrt hatte und der Kontakte zu den Warlords hält.  Dass Menschen die Grenzen des Gesetzes und moralischer Ansprüche übertreten (müssen), ist eines der Themen des Buches.  Nahezu alle Personen haben in irgendeiner Form Schuld auf sich geladen: Sonja nutzt nicht nur die Beziehung eines zwielichtigen Mannes aus. Sie hat auch ihre Schwester im Krieg zurückgelassen. Achmed hat seine Frau betrogen. Ramsan verrät seine eigenen Nachbarn an die Russen. Ein Verhalten, das jedoch nicht verurteilt, sondern erklärt wird, aber ohne dies zu entschuldigen. Der Krieg macht einen Menschen oftmals zu Täter und Opfer gleichermaßen. Die Grausamkeit findet sich dabei in einigen sehr eindringlichen Szenen. Denn ein Buch über den Krieg kommt nicht ohne aus.  Doch Marra gelingt der Spagat, jene Gewalt zu schildern, ohne dass sie als drastisches Schockelement die Tragödien und Schicksale in den Hintergrund schiebt. Vielmehr steht der Mensch in seinem Wesen und all seiner Körperlichkeit im Mittelpunkt.

Marra hat für seinen Debüt-Roman nicht nur Bücher gelesen und Quellen studiert. Er hat einige Zeit in Russland gelebt, wo sein Interesse für Tschetschenien ihren Anfang nahm. Mit seinem Erstlingswerk hat der Amerikaner schon viel Aufmerksamkeit und den Respekt der literarischen Szene erfahren.  Er stand auf der Longlist des National Book Awards und wurde mit mehreren Preisen geehrt.  Für dieses Debüt nimmt man am besten Superlative, um es zu beschreiben. Das Urteil „gut“ wäre womöglich eine Beleidigung. „Die niedrigen Himmel“ prägt sich mit wortgewaltiger Kraft und großer Leidenschaft für die Seelen der Menschen ein und bringt ein Land ins Bewusstsein zurück, das nahezu vergessen schien. Auch darin liegt ein wertvoller Verdienst dieses literarischen Schatzes.  Im April erscheint sein neuestes Werk „Letztes Lied einer vergangenen Welt“ im Suhrkamp Verlag. Man kann sehr gespannt und voller Vorfreude sein.

Der Roman „Die niedrigen Himmel“ von Anthony Marra erschien im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach. Es ist bereits als Taschenbuch erhältlich; 487 Seiten, elf Euro.

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