„Es gibt mehr Möglichkeiten, sich an einen Menschen zu erinnern, als es Menschen auf der Welt gibt.“
In einem meiner Lieblingsbuchläden fiel er mir auf: der Roman von Anthony Marra mit dem Titel „Die niedrigen Himmel“. Mit diesem meisterhaften Buch erlebte ich meine erste literarische Begegnung mit Tschetschenien – ein Land, das in den vergangenen Jahren vor allem durch die Berichte zweier Kriege regelmäßig in die Schlagzeilen gekommen war. Mit seinem neuesten Werk „Letztes Lied einer vergangenen Welt“ kehrt der Amerikaner zurück in dieses traditionsreiche wie einst zerrüttete Land und spannt den Bogen indes zeitlich und geografisch weiter.
Unterschrieben ist das Buch mit Stories, Erzählungen. Doch wer die Geschichten sehr aufmerksam liest, wird interessante Verknüpfungspunkte finden. Denn eigentlich ist dieses Buch schon ein Roman, der aus kleinen Mosaikbildern besteht, oder bildhaft gesprochen wie ein Sternbild erscheint, das aus verschiedenen Sternen bestehend eine Bedeutung hat. Ausgangspunkt ist der gescheiterte Künstler und Zensor Roman Markin, der 1937 in Leningrad unliebsame Volksfeinde von Fotos retuschiert. Eine Form der Fälschung und Manipulation, die nicht nur in Russland, sondern später auch in der DDR und in Nordkorea praktiziert wurde. Roman arbeitet offiziell im Auftrag des Ministeriums für Parteiagitation und Propaganda. Zu jenen Personen, die sowohl in der Vergangenheit als auch in Gegenwart und Zukunft keine Rolle mehr spielen sollten, an die man sich nicht mehr erinnern durfte, gehört auch sein Bruder Waska, den er selbst von Familienfotos entfernen soll. Doch Roman hat eine andere, sehr intelligente Möglichkeit gefunden, die Erinnerungen an seinen Bruder lebendig zu erhalten. Auch wenn ihm schließlich selbst der Prozess gemacht wird und ihm kein langes Leben beschieden ist, bleibt dieses Werk erhalten, wird Jahrzehnte später eine tschetschenische Restauratorin auf die mutigen Taten des Künstlers aufmerksam.
Marra spannt für seine Geschichten einen zeitlichen Rahmen von den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, der Hoch-Zeit der stalinistischen Verfolgung, bis in die jüngste Gegenwart kurz nach der Jahrtausendwende. Seine Protagonisten sind eine Reihe Personen, deren Leben miteinander verbunden sind. So hat Roman auch ein Bild retuschiert, das eine Ballett-Tänzerin zeigt, die ebenfalls als Volksfeindin verurteilt wird. Sie wird in ein Gulag nahe dem Polarkreis gebracht. Das Lager wird später wegen den errichteten Nickelhütten zu einer Stadt, in der viele Gefangene auch nach der Auflösung des Lagers weiter leben. Auch die Enkelin der Primaballerina, Galina, wächst in dieser von Industrieabfällen und Chemikalien verseuchten Stadt auf, in der die Einwohner kaum älter als 50 werden. Sie wird später an der Seite eines reichen Oligarchen ein Star. In Tschetschenien macht sie sich auf die Suche nach ihrer einstigen Liebe Kolja, der als Soldat, später als Söldner in die Kriege zog. In der tschetschenischen Hauptstadt Grosny lernt sie Ruslan, den einstigen stellvertretenden Direktor des zerstörten Museums für Heimatkunst und jetzigen Chef des Fremdenverkehrsamtes, kennen, der wiederum ein Gemälde des Künsters Pjotr Sacharow-Tschetschenez restauriert und bearbeitet hat, das einen für ihn bedeutenden Ort zeigt. Der Leser begegnet zudem Koljas Bruder, der Mutter einer Schulfreundin Galinas und später sogar den Neffen des Zensors Roman, der dank dessen Bilder eine Erinnerung an seinen Vater erhalten soll.
„Wir verewigen unsere intimsten Augenblicke auf Atomen, die einst aus einer so großen Explosion hervorgingen, dass sie bis heute einen riesigen leeren Raum hinterlässt. Ein Photonenschimmer trägt die Erinnerung durch die lange, dunkle Amnesie. Auch wir werden getragen werden, geheimnisvolle Teilchen, die wir sind.“
Dieses Panorama verschiedener ungemein ergreifender Schicksale wird aus verschiedenen Perspektiven vielstimmig berichtet. Mal melancholisch, mal ernüchternd und tieftraurig, mal mit einem menschlich-berührenden Humor lassen Marras Stories den Leser oftmals atemlos zurück. Vor allem die letzte Geschichte ist ein strahlendes Stück Literatur, das den Leser jedoch herausfordert, diese zeitlich zu verorten. Die Struktur der Stories – der Band ist in Seite A und Seite B nebst Pause untergliedert – erinnert dabei an eine Schallplatte. Nichts lässt der Amerikaner, 1984 in Washington geboren, dem Zufall überlassen, alles ist ins kleinste Detail durchdacht; sprachlich und gestalterisch. Marra bringt dafür seine Erlebnisse aus seinem Studienaufenthalt in Russland sowie seine Lektüre-Erfahrungen ein, auf die der Autor im Anhang verweist. In die Riege namhafter jüngerer amerikanischen Autoren, die auch in Deutschland beachtet werden, wie Jonathan Safran Foer, Nicole Krauss oder Ben Lerner, sollte nun auch Marra einen Platz einnehmen. Von einigen Großen der älteren Autoren-Generation erhält er bereits Lob und Anerkennung.
Der Band „Letztes Lied einer vergangenen Welt. Stories“ von Anthony Marra erschien im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach; 339 Seiten, 22,95 Euro
Ein Kommentar zu „Rückblende – Anthony Marra „Letztes Lied einer vergangenen Welt““