„Eigentlich gelangt man ja nur nach Hause in verschwommenen und undisziplinierten Empfindungen.“
Zwei Städte, zwei Flüsse, zwei Lebensgeschichten: Botho Strauß, 1944 in Naumburg an der Saale geboren, aufgewachsen in Bad Ems an der Lahn, zählt zu den großen literarischen Stimmen Deutschlands. Seine umfangreiche Werkliste umfasst Theaterstücke, Erzählungen und Essays. Für sein Schaffen wurde er mehrfach geehrt, so mit dem Lessing- und dem Büchner-Preis. Eines seiner jüngsten Bände, 2014 mit dem Titel „Herkunft“ im Hanser Verlag erschienen, ist ein Meisterwerk von Erinnerungsbuch.
Strauß blickt darin zurück auf seine Kindheit und Jugend. Die Hauptrolle in seinem Strom an Erinnerungen und Reflexionen hat sein Vater übernommen. Eduard Strauß, Apotheker und Chemiker, aus der Saar-Region stammend, erstellte unter anderem Gutachten für die pharmazeutische Industrie, war in Naumburg Inhaber einer Firma, ehe diese nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Enteignung in Volkseigentum übergangen war. Die Familie hatte daraufhin 1950 die sowjetische Besatzungszone gen Westen verlassen. An einer Stelle in dem Band heißt es: Der Sohn solle nicht „im Kommunismus“ aufwachsen. Strauß senior, der im Ersten Weltkrieg in Frankreich schwer am Kopf verletzt wurde und ein Auge verlor, wird als ein Mann mit besonderen Ritualen beschrieben wie die ausgiebige Morgentoilette, der Spaziergang vor dem Frühstück, der Mittagsschlaf, in dem zwischen 13 und 15 Uhr keiner die Familie besuchen durfte. Ein Schild an der Tür gab über diese „Sperrzeit“ Auskunft.
Zwischen diesen vertraulichen Einblicken in das Leben der Familie Strauß berichtet der Autor über Kindheit und Jugend, in denen der Vater nicht wegzudenken war. Da sind der Schulszenen, die Hinwendung zur Literatur, die beginnende Leidenschaft für das Theater und die Erleichterung, als junger Mann nicht für die Armee gemustert zu werden. Der Vater wurde Lehrmeister und auch in dieser Lage zu einem Retter, der nach seiner Verletzung zu einem Feind des Militärs geworden war. Diese Bedeutung des Vaters wird dem Sohn erst später wirklich bewusst. Die Vater-Sohn-Beziehung, die allerdings nicht immer harmonisch war da der Abstand zwischen beiden Generationen spürbar wurde, wird umgeben von weiteren Personen; da sind die Großmutter und Mutter, ein Onkel, Lehrer, Schulkameraden und erste Freundinnen. Bad Ems und die Wohnung in der Römerstraße sind Heimat und Paradies der Kindheit zugleich. Mit der Geburtsstadt Naumburg verbindet Strauß die Saale, das elterliche Schlafzimmer, das von einem Schreiner aus der Domstadt angefertigt worden war, sowie die Gefängnismauer: Sein Vater geriet nach Kriegsende in Untersuchungshaft; der erste Schritt zum Abstieg infolge der Zwangsenteignung. Die Familie sollte nicht mehr jenen wirtschaftlichen Stand erfahren wie einst und der Vater sich zu einem Misanthropen wandeln. Nach Thomas Brasch, der als Kind traumatische Erfahrungen und den Drill über mehrere Jahre in der Naumburger Kadettenschule erleben musste, scheint Strauß wohl ein weiterer Autor zu sein, der mit der Domstadt leider negative Erlebnisse verbindet.
„Die Zeit unseres Erlebens läuft nicht in eine Richtung ab wie die Lebenszeit. Sie springt vor und zurück; innerhalb des unvermeidbaren Fort-Schritts gibt es Frei- und Stauräume, in denen zeitliche Unordnung herrscht, Gegenwart und Vergangenheit ihre Richtungspfeile verlieren, und das, was längst zum Bestandenen gehört, taucht noch einmal unbestanden auf.“
Strauß berichtet nicht chronologisch, die Gedanken und Erinnerungen schwirren durcheinander, ergänzen sich mit der weiteren Lektüre. Auslöser, der den Rückblick anstößt und fördert, ist eine Haushaltsauflösung 1990 rund um den 100. Geburtstag des Vaters, bei der dem Autor symbolhafte Gegenstände in die Hände fallen wie ein Achat, der das Geschoss enthielt, das den Vater einst verletzt hatte, oder ein Briefbeschwerer aus Onyx. Zu erzählten Szenen treten Reflexionen, die die Dimension hinter den persönlichen Erlebnissen ausleuchten, ihre Bedeutung erfassen: die Vergänglichkeit und das Vergehen der Zeit, Eigenschaften, die von Generation zu Generation übertragen werden, die Rolle der Heimat und des Zuhauses. An manchen Stellen spricht er den Vater, manchmal sogar sich selbst an.
Die durchdachte und sensible Sprache kleidet den wertvollen inhaltlichen Kern von „Herkunft“ als Perle noch einmal in Seide ein. Es ist eine besondere Erfahrung, diesen schmalen, inhaltlich kompakten wie tiefgründigen Band zu lesen, der einen zudem motiviert auf eigene Herkunftssuche zu gehen, die zurück in der Zeit und zudem in das eigene Innere verbunden sein kann mit sowohl hellen als auch dunklen Episoden und Gefühlen.
Eine weitere Besprechung gibt es auf „brasch & buch“, dem Blog von Thomas Brasch.
Der Band „Herkunft“ von Botho Strauß gab der Hanser Verlag heraus; 96 Seiten, 14,90 Euro. Als Taschenbuch-Ausgabe wird das Werk am 24. Juni 2016 im dtv-Verlag erscheinen.
Ich mochte es sehr …
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Wird als Taschenbuch die thematisch perfekte haptische Ausstattung verlieren. Literarisch finde ich es herausragend. Hatte ich auch jedem gesagt, ob er es hören wollte oder nicht: https://thomasbrasch.wordpress.com/2014/10/04/sturmt-die-buchhandlung-botho-strauss-herkunft-befuhlen-beschnuppern-und-lesen/
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Da hast Du natürlich recht, Thomas. Die Ausgabe ist wunderschön. Ich hatte allerdings „nur“ eine Bibliotheksausgabe, die „einlaminiert“ war, um den Leineneinband zu schützen. Vielen Dank für den Verweis auf Deinen Beitrag, den ich gleich noch einfügen werde trotz des Links in diesem Kommentar. Viele Grüße
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