„Wenn du den Himmel wolltest, hieß es, hättest du vielleicht nicht hierhergekommen sollen. Aber wenn du glaubst, dass deine Füße dich tragen, dann gibt’s ja immer noch Amerika.“
Schätzungsweise zwölf Millionen illegale Einwanderer leben in den USA. Die meisten stammen aus dem Nachbarland Mexiko, viele aus Asien, allen voran aus China und Indien. Zou Lei ist halb Han-Chinesin, halb Uigurin. Als junge Frau und einige Jahre nach dem frühen Tod ihres Vaters als Soldat der Volksbefreiungsarmee verschlägt es sie nach New York. Sie jobbt in Schnellrestaurants, verkauft DVDs in der U-Bahn. Ihr Alltag ist bestimmt, das nötige Geld zu verdienen und nicht von der Polizei entdeckt zu werden. Der Roman „Vorbereitung auf das nächste Leben“ des Amerikaners Atticus Lish erzählt ihre Geschichte und von weiteren Schicksalen.
In New York trifft sie auf Brad Skinner, einem ehemaligen Soldaten, der nach drei Einsätzen im Irak in sein Heimatland zurückkehrt ist. Ihre Begeisterung für Fitness und Sport verbindet sie. Mit der Zeit werden die beiden ein Paar, das nahezu täglich meilenweit durch die Mega-City läuft. Doch die innige Beziehung verläuft indes nicht ohne Reibungen und teils heftigen Auseinandersetzungen. Denn Skinner ist psychisch labil und nach einer schweren Verletzung und dem Verlust eines Kameraden während eines Einsatzes schwer traumatisiert. Während Zou Lei hart für ihr mageres Gehalt schuftet, lebt er in den Tag hinein, versinkt im Alkohol und einem ausufernden Tablettenkonsum. Stimmungswechsel, Depressionen und Wutausbrüche sind alltäglich. Zudem plagen ihn Albträume und Selbstmordgedanken. Eine geladene Beretta ist immer in Reichweite. Die Situation spitzt sich zu, als in das Haus, in dem Skinner im Kellergeschoss haust, der älteste Sohn der Vermieterin nach einer mehrjährigen Haftstrafe wieder einzieht und für Unfrieden und eine bedrohliche Atmosphäre sorgt.
Skinner und Zou sind zwei Verlorene. Sie gibt ihm Halt, damit sie sich dank ihm in der Weite der Stadt und in einem völlig fremden Land und einer fremden Kultur verorten kann. Man hofft leichtgläubig auf ein Happy End – beide planen zu heiraten, um Zou legale Papiere zu verschaffen, beide fühlen sich in guten Zeiten wie eine „Zwei-Mann-Armee“ -, doch Lish ist ein Verfechter der knallharten Realität. Rosarote Wolken und blauer Himmel mit Sonnenschein gibt es hier nicht. Es ist der große Verdienst dieses Debüt-Romans, mit dem Schicksal von Zou und Skinner das harte Leben von Millionen von Menschen am Rande der Gesellschaft und in der Zeit der Globalisierung eindrucksvoll abzubilden. Sie sind Sklaven und Zerschundene – wie viele andere, die in diesem Roman nicht einmal einen Namen erhalten, sondern nur mit ihrer Nationalität bezeichnet werden. New York ist nicht die Glitzer-Metropole, sondern Lish konzentriert sich auf die Außenbezirke und Ghettos, in denen sich die Einwanderer – illegal oder nicht – zusammenfinden. Es sind düstere, von Müll, Graffiti und Ruinen gezeichnete Gegenden, der menschenverschlingende Moloch schlechthin. Rassismus und Gewalt, Neid und Missgunst, die Kälte der Bürokratie regieren. Jeder misstraut dem anderen. In einer der härtesten Szenen, ausgenommen Skinners Erinnerungen an den Irak-Krieg, verprügelt und missbraucht Jimmy eine Chinesin auf das Entsetzlichste.
„Die Aussicht stand für alles, was möglich war. Die Stadt erstreckte sich über eine riesige Fläche in die Welt hinaus, war schrankenlos. Der Horizont war keine Grenze. In jeder Richtung gab es noch immer Gebäude, die die Erde bedeckten. Sie sah die Schatten der Waldgebiete, die aus dieser Entfernung verschachtelte Unschärfe der Äste, zwischen den Häusern. Links von ihr lagen die Highways – groß, öd, einsam.“
Lish, Sohn des bekannten Autors und Lektors Gordon Lish, hat das autonome Gebiet der muslimischen Uiguren kennengelernt. Während seiner Arbeit als Englischlehrer in China führten ihn seine Reisen auch nach Xinjiang, im Nordwesten der Volksrepublik gelegen. Die Passagen über Zous Heimat, die Wüstenstadt mit Blick auf die Berge, zählen zu den sprachlich schönsten, sind im Vergleich zum New Yorker Teil des Buches leider indes kurz. Zudem fehlen nähere Beschreibungen über die Reise der jungen Frau aus Asien nach Amerika. Kleine Lücken im Strom der Geschichte klaffen da, während die Protagonisten beeindruckend umfassend und vielschichtig ausgestaltet sind; selbst Jimmy, dessen Abstieg vom Gewerkschafter zum Kriminellen erzählt wird. Besonders eindrücklich erzählt sind die Erlebnisse Skinners im Irak, die tägliche Bedrohung, der schwere Dienst aus 18-stündigen Wachen oder Patrouillen, die Ungewissheit, wer von den Einheimischen Freund oder Feind ist. Verschwiegen werden nicht die Gräueltaten der Amerikaner an den Zivilisten. Es wird klar, weshalb Skinner ein psychisches Wrack ist, der von der Gesellschaft fallen gelassen wird, keinerlei Unterstützung erfährt.
Stilistisch lebt dieser facettenreiche Erstling von seinen „schnell geschnittenen“ Bildern, einer oft stakatohaften Sprache aus kurzen Phrasen und einer Detailfreude, die sich vor allem im Alltag und bei den langen Streifzügen von Skinner und Zou zeigt. Als Jimmy in das Geschehen eintritt, wächst die Dramatik, die schließlich in eine Gewaltorgie führt. Für „Vorbereitung auf das nächste Leben“ erhielt Lish 2015 den renommierten Pen/Faulkner Award. Der Roman ist eines der erschütterndsten Werke der letzten Jahre, das sein ernüchterndes Gesellschaftspanorama sowie seine Botschaft zielgerichtet in den Kopf des Lesers hämmert und zu schmerzen weiß.
Der Roman „Vorbereitung auf das nächste Leben“ von Atticus Lish erschien im Arche Literatur Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Michael Kellner; 528 Seiten, 24,95 Euro
Mir hat der Roman auch sehr gefallen. Sehr hart und realistisch (vermutlich), aber eben auch sehr eindringlich.
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