„Ich merkte zwar, dass ich Fieber hatte. Aber das mit den fünf Tagen glaubte ich nicht. Es war ein dunkles Loch in der Zeit.“
Das Ziel der Reise war das Grauen. Koffer wurden gepackt, ein Zug bestiegen. Für Millionen Menschen war jene Fahrt eine ohne Wiederkehr. Die historischen Bilder der Gleise, Güterwaggons und Bahnhöfe an den Konzentrationslagern sind bis heute genauso ein Symbol für den Holocaust wie die Aufnahmen der Lager selbst. „Aber bald fahren wir wieder nach Hause“, tröstet die Mutter den kleinen Jona. Er wird als einziger den Krieg überleben, als Erwachsener in „Kinderjahre“ rund 30 Jahre später darüber erzählen und damit ein herausragendes literarisches Dokument schaffen, das nun als eine Neuerscheinung im Diogenes-Verlag auf seine Wiederentdeckung wartet.
„Kinderjahre“ von Jona Oberski wurde erstmals 1978 veröffentlicht. Darin verarbeitet der Autor seine Erlebnisse und Erinnerungen sowie den Verlust seiner Eltern. 1938 in Amsterdam geboren, beginnt die schreckliche Reise des Jungen bereits 1940. Die Familie wird in das Durchgangslager Westerbork deportiert. Wenige Jahre später ist das Lager Bergen-Belsen nächstes Ziel. Die Eltern versuchen zu Beginn, dem Jungen zu vermitteln, dass alles nur ein Irrtum ist, die Reise in das ersehnte Palästina bald beginnen wird. Schließlich ist das Grauen nicht mehr zu überdecken. Der Vater stirbt an Entkräftung. Sein Sohn wird Zeuge. Es liegt in jener Szene des Abschieds in gut der Mitte des Buches etwas so Tieftrauriges, das nur mit den dunkelsten Farben beschrieben, mit dem Ausdruck tiefsten Entsetzens begegnet werden kann. Doch es bleibt nicht die einzige dramatische Passage. Dass sich Jona und seine Mutter in einem Konzentrationslager befinden, wird an vielen Stellen deutlich. An keiner wird jedoch Bezug genommen auf das bis heute wohl bekannteste Familienschicksal – das der Franks, die ebenfalls aus Amsterdam stammten. Anne Frank war im März 1945, also wenige Wochen vor Kriegsende, in Bergen-Belsen an Typhus gestorben.
Denn geschrieben ist der schmale Roman – eingeteilt ist das Geschehen in fünf größere Abschnitte und 21 kleinere Sequenzen – vollständig aus der Sicht des Kindes – in einer kargen und einfachen Sprache mit kurzen Sätzen, Wortwiederholungen und einem eher geringen Wortschatz. Es gibt keine Aus- oder Rückblicke, vieles erscheint wegen der Sicht des Kindes trotz des Leids in einem positiven Licht und euphemistisch: das Totenhaus ist ein Tropenhaus, die Kleidung des Jungen wird an einer Stelle als Schlafanzug beschrieben, was einen an den weit später erschienenen Bestseller „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne erinnert, in dem das Leben im Konzentrationslager Auschwitz ebenfalls aus dem Blickwinkel eines Kindes erzählt wird. Es wäre interessant zu erfahren, ob womöglich Boyne das Buch Oberskis zuvor gelesen hat.
Doch gerade so werden das Leid und das Ausmaß des Verbrechens auf besondere Weise dem schockierenden Leser bewusst. Trotz dieses speziellen Stils beinhaltet das Buch sehr viele Facetten: die Repressalien, die die Juden ausgesetzt waren, aber auch die innige Zuneigung, die zwischen Vater und Mutter sowie zwischen Eltern und Sohn bestanden hat. Die warme familiäre Bindung bildet einen tiefen Kontrast zur kalten, menschenverachtenden Umgebung, in der der Tod allgegenwärtig ist. Und Jona kommt an diese entsetzlichen Orte in einer Zeit, in der er selbst als kleines Kind ein neugieriger Entdecker ist, der seine Welt auskundschaftet und das Leid in keinster Weise wirklich begreifen kann. Auch der Tod der Mutter wird vom Kind nicht wirklich aufgenommen. Sie stirbt nach der Rettung in dem kleinen Ort Tröbitz (heute Landkreis Elbe-Elster, Brandenburg): Der Zug von Bergen-Belsen gen Auschwitz war zuvor von russischen Soldaten befreit worden.
„Meine Mutter weckte mich auf. Es war dunkel. Wenn wir mitwollten nach Palästina, dann müssten wir innerhalb von zwei Minuten am Zaun sein, um in den Zug einsteigen. Die Menschen rannten aus der Baracke. Ich musste mir die Schuhe anziehen und den Mantel über meinem Schlafanzug zumachen.“
Ein Beitrag über dieses Buch darf indes nicht die Geschichte des Autors vergessen, gerade wenn seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse Grundlage sind. Oberski wurde nach dem Krieg von Pflegeeltern aufgezogen, denen er seinen Roman auch gewidmet hat. Er studierte Mathematik und Physik und war später an einem Forschungsinstitut für Nuklear- und Teilchenphysik tätig. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit Elementarteilchen. Mit dem Schreiben hat er nach dem Besuch einer Schreibwerkstatt in den 70er Jahren begonnen, die damals von der niederländischen Schriftstellerin und Lyrikerin Judith Herzberg geleitet wurde. Ein Auszug aus einem ihrer Gedichte wurde dem Roman vorangestellt. Nach dem Erscheinen 1978 unter dem Originaltitel „Kinderjaren“ gewann das Buch schnell an Berühmtheit. Es wurde in über 16 Sprachen übersetzt. Die Verfilmung des Stoffs Anfang der 90er Jahre durch den italienischen Regisseur Roberto Faenza mit dem Titel „Jona che visse nella balena“ erhielt mehrere Preise. Der bekannte britische Dramatiker und Literaturnobelpreisträger Harold Pinter bezeichnete den Roman 1980, nach dem Erscheinen der englischen Übersetzung, als Buch des Jahres. Der einstige Amsterdamer Bürgermeister und Staatsminister Ivo Samkalden nannte „Kinderjaren“ eine Pflichtlektüre während einer öffentlichen Debatte Anfang der 90er Jahre um eine Leseliste für die Sekundarstufe.
Doch auch ohne diese prominenten Befürworter ist dieses ergreifende Buch, was es ist: ein zeitloses Dokument von unschätzbarem Wert, das wie nur wenige Werke jene gewaltige Wirkung entfalten. Trotz allem bleibt der Holocaust bis heute und wohl auch ewig unfassbar und unbegreiflich. Bücher wie „Kinderjahre“ sollen jedoch nicht erklären, sondern erzählen und erinnern. Auch deshalb sollte der Diogenes Verlag viel Dankbarkeit erfahren, dass er dieses schmale wie schwere Büchlein wieder aufgelegt hat – als wichtiger Teil einer Gedächtnisbibliothek.
Der Roman „Kinderjahre“ von Jona Oberski erschien im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Maria Csollány; 160 Seiten, 20 Euro
Von den Fakten her ähneln sich viele dieser Erinnerungsbücher (ich lese im Moment auch wieder eins), die Perspektive unterscheidet sich meistens ein wenig. Die, die heute noch erzählen können, waren damals meist Kinder oder Jugendliche, deren Leben durch diese Katastrophe geprägt wurde. Der „Sinn“ solcher Bücher liegt, denke ich, nicht so sehr in der Bewahrung von „Fakten“ (ich denke, die sind mittlerweile gut dokumentiert), sondern darin, daß jeder, der damals ermordet wurde, das Recht darauf hat, daß wenigstens sein Name in Erinnerung bleibt, sein Schicksal und das Verbrechen der Mörder. Deswegen ist jedes Erinnerungsbuch wichtig. Das Erinnern ist nicht viel, was man machen kann, aber das Mindeste…..
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Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Ich glaube, es ist zudem wichtig, dass die Opfer auch eine Stimme erhalten und noch Jahre und Jahrzehnte angehört beziehungsweise gelesen werden. Dies kann nie und nimmer die riesigen Wunden heilen, aber eine positive Erfahrung sein. Viele Grüße
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