„Eltern stecken in ihren Kindern und können sie schwer und traurig machen.“
Um das Leben literarisch zu erfassen, braucht es keine großen Worte, keine bekannten Personen als Protagonisten. „Stoner“ von John Williams, Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ – zwei Romane, die daran erinnern, dass große Literatur vor allem die Geschichte der kleinen, nicht berühmten Leute in ihrem Alltag im Lauf der Zeit erzählt. Dieser Reihe kann ein neuer Roman hinzugefügt werden: „Schnell, dein Leben“ von Sylvie Schenk. Dabei wird den wenigsten wohl der Name der deutsch-französischen Schriftstellerin bekannt sein, die in der Vergangenheit vor allem Lyrik und einige wenige Romane (Picus Verlag Wien) veröffentlicht hat. Doch mit ihrem neuen Werk gilt es, sie zu entdecken. Denn es ist ein großartiges Buch.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Louise. Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie in einem kleinen abgelegenen Bergdorf in den französischen Alpen. Die Familie lebt in geordneten Verhältnissen, der Vater ist Zahnarzt, die Mutter Hausfrau. Der Enge der ländlichen Provinz und der Strenge des Vaters entflieht sie mit dem Studium in Lyon. In einer Jazz-Bar trifft sie ihre späteren Freunde, darunter auch Henri, der Piano spielt, und Johann, der zu den ersten deutschen Austauschstudenten in Frankreich nach dem Krieg zählt. Zu beiden fühlt sich Louise hingezogen. Doch schließlich entscheidet sie sich für den stillen, unauffälligen Pharmazie-Studenten aus dem Nachbarland – trotz der Warnungen der Eltern und Henris Versuchen, sie zurückzugewinnen. Aus der Partnerschaft wird eine Ehe, das Paar bezieht eine gemeinsame Wohnung, Zwillinge kommen zur Welt, aus Verliebtheit wird Beständigkeit, der Mann macht Karriere. Das Leben in seinen vertrauten Etappen spult sich ab.
Doch Schenk fügt dieser Lebenserzählung noch eine Ebene hinzu, die für Spannung sorgt – zwischen den Protagonisten und auch beim Leser des Romans, der einen zeitlichen Rahmen von den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit spannt, in einer Rückblende sogar vom Krieg erzählt, dessen Wunden noch frisch sind. Vor allem in den Köpfen herrschen Vorurteile und Ressentiments zwischen Franzosen und Deutschen, Henri trauert um seine Eltern, die von den Deutschen getötet wurden. Seine Aufmerksamkeit gilt deshalb nicht nur der Musik, sondern auch der Geschichte der Besatzungszeit, den Verbrechen der Deutschen und der Emsigkeit der Kollaborateure, die dieses unmenschliche Treiben gegen die jüdische Bevölkerung und Widerstandskämpfer unterstützt haben. In einer der entscheidenden Szenen werden die Geschichten von Henris und Johanns Familie auf dramatische Weise verknüpft.
„Euer Leben ist ein seichter See, das Wasser durchsichtig, die Steine, die Algen hier und da allerdings schon sichtbar. Es wird beim Essen sehr wenig gesprochen, man fragt euch, ob alles klar sei. Ja, alles klar, alles in Butter. In der Tat wird vor allem das Essen kommentiert.“
„Schnell, dein Leben“ erzählt davon, wie politische und gesellschaftliche Geschehnisse, die später zur Geschichte werden, das Leben jedes Einzelnen beeinflusst. Großes Thema des Romans: das Schweigen und die Schuld der Älteren, die Unsicherheit und Zweifel der jüngeren Generation, die kaum bis nichts über die Vergangenheit und die Taten der Eltern weiß. Louise, die als Ehe- und Hausfrau und Mutter nicht ihren wahren Begabungen folgen kann, scheint eingezwängt von Eltern und Schwiegereltern zu sein. Damals die Kühle und Lieblosigkeit in Kindheit und Jugend – nur zur Mutter hat sie ein gutes Verhältnis -, später die freundliche, aber bestimmte Distanz, die sich aus der unterschiedlichen Herkunft und Sprache ergibt. Louise wird nicht wirklich heimisch, auch die einst glückliche Ehe verwandelt sich mit den Jahren zu einer Beziehung mit Enttäuschungen und Spannungen, da ihr Mann in einem Korsett aus Ansprüchen und Forderungen seitens des Vaters gefangen ist und auch dessen jüngere Schwester Sorgen bereitet. Die Schuld von Johanns Vater und Hiobsbotschaften nach dramatischen Ereignissen werden den Prozess der Entfremdung noch verstärken.
Erzählerin ist Louise selbst, die von ihren Erlebnissen und Erfahrungen in der eher ungewöhnlichen Du-Perspektive berichtet; und dies in einer sehr einfachen, verknappten Sprache, die es allerdings vermag, eindrucksvolle Bilder und eindringliche Szenen zu erschaffen. Am Ende wird die Protagonistin und Erzählerin sogar zur Berichterstatterin der Kindheitserlebnisse ihres Mannes. Unzweifelhaft hat die Autorin, die in den Alpen aufgewachsen ist, in Lyon studiert hat und in den 60er Jahren nach Deutschland gekommen war, auch eigene Erfahrungen in ihr Werk hineinfließen lassen. Der Roman besitzt trotz seines auf den ersten Blick bekannten Themas – die Aufarbeitung der Kriegszeit und die Distanz zwischen den Generationen – eine faszinierende Sogwirkung. „Schnell, dein Leben“ ist ein kraftvolles wie sensibles Buch, das sich in Kopf und Herz gräbt, nicht nur im Moment der kurzen Lektüre, sondern auch darüber hinaus nachhallt.
Eine weitere Besprechung gibt es auf „literaturleuchtet“, dem Blog von Marina Büttner.
Der Roman „Schnell, dein Leben“ von Sylvie Schenk erschien im Hanser Verlag; 160 Seiten, 16 Euro
Foto: Unsplash/pixabay
Die Autorin hat schon zweimal bei uns in der Buchhandlung gelesen. Aber mit diesem neuen Roman ist sie nochmal sehr viel besser geworden. Ich war auch sehr angetan von dieser unspektakulären, aber in einer schönen und schlichten Sprache erzählten Lebensgeschichte.
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Schön, dass es dir auch so gut gefallen hat. Ich fand gerade diese Du-Perspektive total spannend, diese Erzählperspektive nutzen wenige Autoren, aber man fühlt sich so direkt angesprochen. Das macht etwas mit dem Leser.
Viele Grüße, Marina
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Okay, das klingt doch nach einem guten Buch!!!! Landet auf meiner Wunschliste ganz ganz oben 😉
Ich mag halt stille Lebensgeschichten.
LG
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