Am Rand – Isabel Fargo Cole „Die grüne Grenze“

„Die Geschichte ist die Entdeckung der Zukunft im Vergangenen.“ 

Neben der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Stimmen und Stimmungen bleibt der Rückblick in die Vergangenheit weiter ein Thema der Gegenwartsliteratur. Auch die Zeit der DDR und der deutsch-deutschen Teilung wird dann und wann beleuchtet, wenn gefühlt auch nicht mehr so oft und konkret wie in den vergangenen Jahren. Nach Lutz Seilers preisgekrönten Roman „Kruso“ (Suhrkamp) und „Brüder und Schwestern“ von Birk Meinhardt (Hanser) erschien mit „Die grüne Grenze“ nun erneut über diese Zeit ein Werk – das viel Aufmerksamkeit verdient hätte.

Zwei Künstler im Mittelpunkt

Das Erstaunliche daran: Es ist das Romandebüt einer gebürtigen Amerikanerin. Isabel Fargo Cole, geboren 1973 im Bundesstaat Illinois, aufgewachsen in New York, studierte in ihrer Heimat sowie in Berlin, wo sie seit 1995 auch lebt und als Autorin sowie Übersetzerin tätig ist. Sie übertrug unter anderem Wolfgang Hilbig (1941 – 2007) und Franz Fühmann (1922 – 1984), zwei große Namen der DDR-Literatur, im Fall Hilbigs auch darüber hinaus, ins Englische. Und das schon einmal vorweg: Cole gelingt es, die Stimmung in der DDR, vor allem die der Künstlerschaft, sehr präzis nachzubilden. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen mit dem Schriftsteller Thomas Grünberg und seiner Frau Editha, einer Bildhauerin, zwei Kunstschaffende. Sie lernen sich in Berlin kennen. Als die junge Frau ein Kind erwartet, ziehen beide nach Sorge, einem kleinen Ort im Harz, wo die Familie Edithas ein Haus im Sperrgebiet nahe der Grenze besitzt. Einst ein Gasthaus, diente es später als Domizil der russischen Armee und in Folge als Unterkunft der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee. Das Paar richtet sich ein, die kleine Eli kommt zur Welt. Während Editha an ihren Skulpturen arbeitet, einen Zirkel in einer nahe gelegenen Gießerei leitet, schreibt Thomas an seinem neuen Roman, der in das Mittelalter führen soll, und arbeitet in der örtlichen Bücherei. Als die wichtigsten Quellen für sein künftiges Buch erweisen sich die Buch-Bestände von Edithas Mutter Margarethe und die des Antiquars Sebastian. Beide versorgen ihn mit historischen Werken über die reiche Geschichte und Sagenwelt des Harzes.

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Man schreibt die 1970er Jahre, als der Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert wird, die Weltfestspiele in Berlin stattfinden, der siebente Schriftsteller-Kongress die weitere Marschrichtung für die entstehende Literatur in der DDR vorgibt und der Zeitzer Pfarrer Oskar Brüsewitz sich selbst verbrennt. All diese Ereignisse fließen in den Roman und in das Leben der Protagonisten ein. Doch zeitlich wagt Cole einen noch weiteren Sprung zurück. Denn die Herkunft von Thomas spielt für dessen Identität eine nicht unwesentliche Rolle, begibt er sich später in Berlin auf die Suche nach den Namen seiner Eltern. Er war in den Wirren des Zweiten Weltkrieges von einem russisch-jüdischen Offizier gerettet worden, wuchs die ersten Jahre in Russland auf und kam später zurück in die DDR und in eine staatstreue Pflegefamilie.

„Nicht die Bilder entzogen sich dem Betrachter – diesen Figuren, diese bauten, dieser Landschaft war etwas entzogen worden. Und festgehalten wurde diese achtlos, wie Fotos, die man längst ohne Absicht knipst und ins Album klebt, ohne zu merken: Das Haus ist verwackelt, die Wiese ausgeblichen, die eine schaut weg und der andere hat bereits seinen Platz verlassen.“

Wie die Geschichte das Leben der Menschen prägt und verändert – das beschreibt dieser Roman sehr eindringlich.  Dabei erhält mit dem kleinen Mädchen Eli jedoch auch eine Person Aufmerksamkeit und eine Stimme, die weder von den Ausmaßen der Geschichte weiß, noch erahnen kann, was die Grenze für die Menschen letztlich bedeutet. Das kluge Kind lebt in seiner eigenen Welt, die geprägt wird von den fantasievollen Geschichten und der Lage ihres überschaubaren Heimatortes am Rande eines Staates. Im Gegensatz zu ihr erfahren ihre Eltern, wie die Grenzen der DDR-Gesellschaft und -Kultur den Alltag sowie das künstlerische Wirken beeinflussen. Freiheit des Ausdrucks, der Form gibt es nicht. Alles muss von oberster Stelle genehmigt werden, ehe es in die Öffentlichkeit kommt. Hinzu kommt die politische Maßgabe, dass Künstler sich der Industrieproduktion nicht verschließen sollen, selbst in den volkseigenen Betrieben tätig werden oder den Arbeitern die Kunst nahebringen. Eine Entwicklung, die unter dem Namen „Bitterfelder Weg“ ab Ende der 1950er-Jahre zum programmatischen Leitbild in der DDR wurde. Und obwohl die Familie in den Fokus der Stasi, übernimmt Thomas selbst eine unrühmliche Rolle.

Ein von der Politik überlagertes Leben

Das komplexe wie vielstimmige Werk strahlt eine besondere Sprachkraft aus, die allerdings an einigen Stellen und in einigen Szenen etwas überbordend wirkt. Über all diesen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse scheint im Buch eine Patina zu liegen, die durch die Verweise auf Märchen und Sagen, geschichtlich weit zurückliegende Ereignisse und die spannende Historie des Harzes, die erzählt wird, entsteht. Die beklemmende Atmosphäre bleibt jedoch bestehen, behalten die Verweise auf das von der Politik überlagerte Leben der Menschen noch immer ihre Aussagekraft. Das zeigt sich auch durch die Flucht in den Westen, die Uwe sowie Lena, der Lektor beziehungsweise die Freundin von Thomas, wagen. Das beweisen auch die Ereignisse am Ende des Buches. „Die grüne Grenze“ stellt eine Bereicherung der Roman-Auswahl über die Zeit der DDR und eine spannende wie lehrreiche Lektüre dar und überzeugt auch gestalterisch mit einer ungewöhnlichen Cover-Ausstattung.


Isabel Fargo Cole: „Die grüne Grenze“, erschienen in der Edition Nautilus; 496 Seiten, 26 Euro

Foto: pixabay

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