Erbe und Erinnerung – Daša Drndić „Belladonna“

„War es Plinius, der schrieb, nichts sei so zerbrechlich wie die Erinnerung, diese zwielichtige Fähigkeit, die den Menschen aufbaut und zerlegt?“

Es muss nahezu schicksalhafte Momente geben. Es kann nicht anders sein. Lange stand der Roman „Sonnenschein“ von Daša Drndić auf meiner Wunschliste. Vor wenigen Monaten entdeckte ich ihn schließlich in einem Erfurter Buchladen. Nichtsahnend, dass es bald einen neuen Roman der kroatischen Schriftstellerin in deutscher Übersetzung geben wird. „Belladonna“ heißt dieses Buch. Der Titel verweist auf die gleichnamige Pflanze, auch unter dem Namen Schwarze Tollkirsche bekannt, die am Ende der Handlung in einer Szene eine Rolle spielen wird. Doch der Roman, der auf beeindruckende Weise Fiktion mit Realität vermischt, widmet sich nicht der Botanik, sondern der Erinnerung – in all ihren Formen und ihrer immensen Bedeutung – sowie der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Zweifel und Gedanken an Alter und Tod

Andreas Ban heißt der Held, ein Kroate, der als Psychoanalytiker, Dozent und Autor wirkte. Er ist also in einigen Berufen zuhause, auch an vielen Orten dieser Welt, denn eine richtige Heimat kennt und fühlt er nicht. Geschuldet ist dieser wurzellose Zustand sowohl seiner tragischen Familienhistorie als auch der Geschichte seines Landes. Der Leser lernt Ban zudem in einer Zeit kennen, als dessen Leben von Zweifeln und Gedanken an das Alter und den Tod gezeichnet ist. Er steht vor seiner Rente, Ärzte unterschiedlichster Fachrichtungen diagnostizieren verschiedene Krankheiten und die Erinnerungen holen ihn ein. Die an seine an Krebs verstorbene Mutter, an seine Frau, die das ähnliche Schicksal ereilt hatte, an Flucht und Vertreibung im Balkan-Krieg, als er mit Sohn Leo nach Kanada emigriert war, sowie die unrühmlichen Taten zahlreicher Kroaten im Zweiten Weltkrieg, die den Holocaust, die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, mit unterstützt haben. Ausführlich wird dabei auf die Machenschaften der faschistischen Bewegung Ustascha und den Unabhängigen Staat Kroatien, der von 1941 bis 1945 existiert hat und deren ideologisches Fundament heute wieder eine Renaissance erlebt und in Teilen der Bevölkerung salonfähig ist, eingegangen.

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Dieses unrühmliche Kapitel aus der Geschichte ihres Landes ist für die Autorin, die für ihr Schaffen bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, ein großes Thema, einer großen Wunde gleich. Auch die Frage, wie unterschiedlich die Erinnerung an diese Zeit in die Gegenwart übertragen wird, verhandelt sie. So erzählt sie unter anderem von den Kindern und Enkeln der Täter, die sich der Schuld ihrer Vorfahren bewusst sind und sich intensiv damit auseinandersetzen, aber auch von jenen, die dieses dunkle Erbe vehement und mit einem Gefühl des Stolzes verteidigen oder es auch „nur“ verschweigen. Dafür führt Drndić reale Beispiele auf.  Sie nennt gezielte Pogromen an mehreren Orten, berichtet sowohl von den Tätern als auch von den Opfern, die kleinsten nur wenige Monate alt, die in Vernichtungslagern an der Seite ihrer Geschwister und Eltern ermordet wurden. Wie in dem Band „Sonnenschein“, der in dem aktuellen Roman mehrfach Erwähnung findet, finden sich auf mehreren Seiten umfangreiche Opfer-Listen – ganz den Worten des Künstlers Gunter Demnig, der mit seiner Aktion „Stolpersteine“ in zahlreichen Ländern bekannt wurde und Anerkennung erhielt, verpflichtend fühlend: „Ein Mensch ist vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“

„Doch manchmal betritt ein entfernter Verwandter die Lagerhalle und wühlt in den Familienpäckchen, sucht stumme Erinnerungen, die bei der ersten Berührung zerfallen, versengte Reste früheren Seins. Und so schiebt Andreas Ban auf dem Flohmarkt abgenutzter Zeiten das Gerümpel hin und her, das ihm entfernte Verwandte, die er nicht kennt, ganz unerwartet schenken.“

„Belladonna“ bereitet keine einfache, aber eine umso bereichernde Lektüre, die sehr berührt, aber auch zornig macht – aufgrund dieser unbegreiflichen Verbrechen, dieses bis heute existierenden menschenverachtenden Denkens, das sich scheinbar auch durch die Erinnerung nicht vollkommen verbannen lässt, so dass gerade mit Blick auf die aktuellen Geschehnisse in Europa und weltweit, den aufkommenden Antisemitismus und Rechtsextremismus, das gemeinschaftliche Gedächtnis an die Zeit des Dritten Reiches und den Zweiten Weltkrieg umso mehr Bedeutung erhält. Da mehr und mehr Zeitzeugen nicht mehr leben, fällt einem Medium eine besondere Rolle zu: Es ist die Schrift, die Literatur, die verfassten Erinnerungen, die all das bewahren, was geschehen war. Viele Stimmen erzählen, wie auch viele Stimmen, diesen Roman bilden. Manch eine erscheint melancholisch, angesichts der nicht aufzuhaltenden Zeit und der Vergänglichkeit, eine andere trägt einen zynischen, gar beißend-verächtlichen Charakter. Manche Szenen muten surreal an. Mit Kritik an der schnelllebigen und konsumorientierten Gegenwart wird ebenfalls nicht gespart.

Rolle der Sprache

Die Sprache ist es auch, in der Ban sich wirklich heimisch fühlt. Er ist fiktiven wie realen Schriftstellern begegnet. Sein Freundeskreis aus Intellektuellen ist groß. Die Autorin spielt auch hier mit dem Verhältnis zwischen Fiktion und Realität. Zur fiktiven Handlung sowie den oft essayhaft wirkenden Berichten zu historischen Ereignissen stellt sie historische Fotografien. In besonders reicher Zahl finden sich Zitate und literarische Verweise. Ein Verzeichnis am Ende des Bandes gibt Auskunft. Doch in einer Besprechung dieses eindrucksvollen Romans sollten zwei Personen nicht unerwähnt bleiben: Brigitte Döbert und Blanka Stipetić, die gemeinsam dieses herausfordernde Werk ins Deutsche übersetzt haben, eine Leistung, die sehr viel Respekt gebührt. Sie standen auch im Mittelpunkt, als 2015 der Roman „Sonnenschein“, den sie ebenfalls übertragen haben, für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt Berlin nominiert war. 

Eine weitere Besprechung hat Marina Büttner für ihren Blog „literaturleuchtet“ geschrieben. Auch Arndt Stroscher widmet sich auf „astrolibrium“ diesem Roman vor.


Daša Drndić: „Belladonna“, erschienen im Verlag Hoffmann und Campe, aus dem Kroatischen übersetzt von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić; 400 Seiten, 24 Euro

Foto: pixabay

5 Kommentare zu „Erbe und Erinnerung – Daša Drndić „Belladonna“

  1. Noch mal danke für den feinen Tipp. Ich habe es inzwischen schon aus der Bibliothek abgeholt. Gleich nach „Magnet“, bei dem ich nun schon Seite 780 erreicht habe und immer noch sehr begeistert bin, beginne ich damit.
    Liebe Grüße!

    Gefällt 2 Personen

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