„Du gewinnst ein paarmal. Dann verlierst du. Aber du machst weiter. Du machst immer weiter.“
Er sitzt auf einer Bank, über ihm der Himmel und die Krone einer Birke. Es könnte ein Park sein, vielleicht der große Garten eines Altersheims. Doch es ist ein Friedhof, zu den es den alten Mann immer wieder zieht. Es ist der Friedhof der kleinen Stadt Paulstädt, kurz das Feld genannt. Hier finden die verstorbenen Einwohner ihre letzte Ruhe. Was sie im Rückblick auf ihr Leben zu berichten haben, treibt den alten Mann um und bildet zugleich das Geschehen des neuen Romans von Robert Seethaler, der sich nach seinem vielgelobten Werk „Das ganze Leben“ wieder den großen Fragen des menschlichen Daseins stellt, aber auch den vielen kleinen.
30 verschiedene Stimmen
Dabei steht diesmal keine Einzelperson im Zentrum des Geschehens. Vielmehr breitet er zahlreiche Schicksale von Paulstädter Einwohner aus, um es genau zu sagen sind es 30 Menschen, Männer wie Frauen, inklusive des alten Mannes, von denen berichtet wird, besser: die erzählen. Denn es sind ihre Stimmen, die der schmale Band vereint. Dabei ist es wohl auch eine Frage der Interpretation oder auch der eigenen Fantasie, ob diese Stimmen nun von dem alten Mann vernommen werden oder nur Ergebnisse seiner Einbildungskraft sind. Irgendwie ist mir der erste Gedanke sympathischer. Bekanntlich ist in der Literatur nichts unmöglich. In seinem Roman „Anima“ (dtv) lässt der kanadische Autor mit libanesischen Wurzeln, Wajdi Mouawad, Tiere über ein Verbrechen erzählen, in Harry Parkers „Anatomie eines Soldaten“ (Benevento) sind es Dinge eines Armeeangehörigen. Und der gerade zu hymnisch besprochene Roman „Lincoln im Bardo“ (Luchterhand) des Amerikaners George Saunders lässt uns ein wenig überraschen, führt doch damit ein zweites kürzlich erschienenes literarisches Werk auf einen Friedhof.
Unterschiedlicher können die vielen Helden in Seethalers neuestem Streich indes nicht sein. Es sind junge und alte Menschen, Männer und Frauen, die unterschiedliche Berufe ausüben, sie sind Bürgermeister oder Briefträger, Journalist, Gemüsehändler oder Schuhverkäufer. Einer verzockt sein Geld und damit seine große Liebe. Der Pfarrer fackelt die eigene Kirche ab. Aber nicht jeder glaubt an Gott. Der Österreicher lässt damit einen Querschnitt einer vielfältigen Stadtgesellschaft entstehen, die auch aus Menschen unterschiedlichster Herkunft besteht. Und jeder erinnert sich auf recht persönliche Art und Weise an sein Leben, an spezielle Momente, Träume, Sehnsüchte, schreckliche Ereignisse, die in manchen Fällen auch zum Tod geführt haben. Manche der Texte sind kurz, der kürzeste besteht aus dem markanten Ausrufen „Idioten“. Andere füllen mit ihren Erinnerungen und Gedanken mehrere Seiten. Die Geschichte des alten Mannes dient dabei als eine Klammer dieser Sammlung an Leben.
„Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte.“
Facettenreich und vielschichtig sind dann auch die Themen, die der Österreicher behandelt. Es geht um das Leben und die Liebe, das Glück des Alltags, die Vergänglichkeit und natürlich den Tod, der mal überraschend kommt, mal sehnsüchtig erwartet wird. Weil der Mensch alt oder krank ist, unter starken Schmerzen leidet. Manchmal wird eben jener letzte Moment geschildert, wenn der Mensch den letzten Atemzug macht. Allein oder mit einem Vertrauten an der Seite. Einige Szenen und Momente rühren den Leser, zu anderen schmunzelt man. Wie bei den Schilderungen des ehemaligen Bürgermeisters, der keine seiner Sünden, politischer, privater wie finanzieller Art, bereut. Besonders eigen erscheint auch das Zwiegespräch zwischen einem Toten und seiner Frau, die ihm erzählt, dass sie zum letzten Mal auf dem Friedhof erschienen ist und bald die Stadt verlassen wird.
Würdevoller Umgang
Das große Wunder dieses Buches liegt nicht nur in jener Vielschichtigkeit auf engstem Raum; ein Überblick über so viele Leben und Schicksale würden andere Autoren vermutlich in einen Backstein von Buch verpacken. Nahezu jede Stimme erhält ihren eigenen sprachlichen Stil, wird die Geschichte auf unterschiedliche Weise dem Leser vermittelt, findet ein aufmerksamer Leser sowohl die zahlreichen Verbindungen zwischen den einzelnen Geschichten als auch Passagen, zum Innehalten und Nachdenken. Nie ist der Kitsch in Reichweite, ist doch ein Abschied, gerade der letzte, immer mit großen Gefühlen verbunden. Seethaler gelingt es diesem Thema und seinen Helden eine Würde zu geben, Melancholie und Humor auf eindrucksvolle Weise zu verbinden. Womöglich gelingt es ihm sogar, bei dem einen oder anderen den Schrecken oder die Angst vor diesem noch immer mit einem Tabu belegten Thema zu nehmen. Wenigstens sollte die Furcht vor Friedhöfen verblassen, sind sie nicht nur wahrhaftige Orte der Ruhe und Besinnlichkeit. Sie wissen auch viel zu erzählen, wenn man achtsam und aufmerksam ist.
Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Peter liest“, „literaturleuchtet“, „letteratura“ und „Leckere Kekse“.
Robert Seethaler: „Das Feld“, erschienen im Hanser Verlag; 240 Seiten, 22 Euro
Foto: pixabay
ich fand das „Feld“ auch sehr schön (wenn mir auch „Ein ganzes Leben“ noch etwas besser gefallen hatte), aber gerade im Vergleich zu „Lincoln im Bardo“ merkt man halt dann doch, dass Seethaler nicht die ganz große Literatur ist. Vielleicht sage ich das aber auch nur, weil ich Saunders für so absolut großartig halte, eigentlich sind diese Bücher – abgesehen vom Friedhofsgedanken, der ja so neu auch wieder nicht ist – gar nicht wirklich miteinander zu vergleichen. Gerne mehr Friedhofsbücher, wenn sie denn so gut sind, wie diese (auch Monika Marons „Zwischenspiel“ war ein sehr schöner Friedhofsroman übrigens)…
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vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Elvira. Der Saunders liegt schon bereit, ich bin sehr gespannt. Gerade wegen der zahlreichen positiven Kritiken. Irgendwie kommt mir der Maron-Titel bekannt vor…. Ich schau mal. Viele Grüße nach Berlin
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steht schon auf meiner ‚möchtegernleseliste’…
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Na dann, viel Freude damit. Viele Grüße
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