„Sich vorzustellen, dass die Welt untergeht, ist nicht einfach, selbst wenn man damit groß geworden ist.“
Manchmal sind sie mit ihrem Stand in belebten Einkaufsstraßen anzutreffen. Der eine oder andere ist ihnen vielleicht an der Haustür begegnet. Sie klingeln und reden über ihre Welt – mit der Zeitschrift „Der Wachturm“ in der Hand. In Deutschland gibt es mehr als 160.000 Zeugen Jehovas. Die Religionsgemeinschaft, die einige auch als Sekte titulieren, ist wohl den meisten dafür bekannt, dass ihre Mitglieder Bluttransfusionen verweigern. Einen eindrücklichen Einblick in die Gedankenwelt, Regeln und das System der „Zeugen“ gibt Stefanie de Velasco mit ihrem aktuellen Roman „Kein Teil der Welt“.
Ziemlich beste Freundinnen
Die Autorin, die 2013 mit ihrem Roman „Tigermilch“ (Kiepenheuer & Witsch) debütierte, benötigte für ihr zweites Buch keine Recherche. Sie zählte einst selbst zur Religionsgemeinschaft, ihre spanische Mutter war eine gläubige Zeugin Jehovas. Stefanie de Velasco verließ die Gemeinschaft, als sie 15 Jahre alt war. Die Jugend als Zeit des Aufbegehrens und der Suche nach dem eigenen Lebensweg nimmt in dem Roman einen breiten Raum ein. Sulamith und Esther sind beste Freundinnen. Während Esthers Eltern bereits missionarisch aktiv tätig sind – Esthers Mutter war weltweit unterwegs, der Vater reist viel -, kommt Sulamith und ihre Mutter neu in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas im rheinländischen Geisrath. Sie stammen aus Rumänien und suchen Anschluss, Sulamiths Mutter wegen ihrer schweren psychischen Erkrankung zudem nach einem Halt. Als Sulamith sich in David verliebt, der nicht zu den Zeugen, sondern zur „Welt“ gehört, begehrt sie schließlich gegen die starren und kruden Regeln der Gemeinschaft auf, die sie als ein Gefängnis empfindet. Sie nabelt sich ab, die enge Freundschaft zu Esther bekommt Risse, bis ein fatales Unglück geschieht.
Was einst geschehen ist, wird erst im späteren Verlauf des Romans erzählt; als Esther und ihre Eltern kurz nach Mauerfall und Wende vom Rheinland in den Osten gegangen (geflohen) sind. Die Familie landet in einem trostlosen Kaff namens Peterswalde, in dem Esthers Vater einst aufgewachsen ist und das Haus seiner Eltern steht. Hier sollen die Joellenbecks das Leben der ortsansässigen Gemeinschaft neu beleben. Die Zeugen der Jehovas waren in der Zeit der DDR verboten, im Dritten Reich wurden Tausende Mitglieder inhaftiert.
Es ist die große Stärke dieses zeitlich zwei geteilten Romans die Themen und Jahre im Rückblick Esthers, die als Ich-Erzählerin berichtet, eng zusammenzuführen: Die Autorin zeigt anhand ihres genauen Bildes des von straffen Regeln, Vorschriften und Ritualen bestimmten Lebens der Religionsgemeinschaft die daraus entstehenden Konflikte auf: sowohl innerhalb der Familie zwischen den Generationen als auch zwischen den „Zeugen“ und der „Welt“. Nachdem Esther in ihrer Kindheit und Jugend in Geisrath erst nur beobachtet, wie ihre beste Freundin die Gemeinschaft infragestellt und schließlich gegen die starren und weltfremden Regeln aufbegehrt, wird sie selbst erst später ähnlich aktiv. Die Begegnung mit dem Bruder ihres Vaters, Onkel Michael, lässt sie zweifeln an der „Wahrheit“, die ihr ihre Eltern über die Geschichte der Familie berichtet haben.
„Auf den Bildern unserer Literatur sah das Paradies immer aus wie eine Mischung aus Zoo und Gemüsegarten. In unserer Vorstellung räumten wir zunächst die Trümmer der alten Welt weg – Hochhäuser, Kirchen, Fußballstadien, die Pyramiden – und schütteten sie zu großen Haufen auf, die wir mit Blumen bepflanzten.“
Obwohl Stefanie de Velasco selbst der Gemeindschaft angehört hat, urteilt sie nicht über deren Vorstellungen und Normen. Der Leser, ob gläubig oder nicht, soll sich selbst ein Bild machen. Doch wie verschieden der Blick auf das Leben und die Welt ist, wird anhand zweier Szenen besonders deutlich: Während eines Gewitters und leichten Erdbebens sucht die Gemeinschaft Schutz in ihrem Saal und glaubt, das Harmagedon bricht an – die Entscheidungsschlacht, in dem die Welt Satans vom Friedensreich abgelöst wird. In einer Biologie-Stunde teilen die Kinder Erweckungsbücher aus und stellen die Evolutionstheorie mit den Argumenten der „Zeugen“ infrage. Wie der psychologische Einfluss auf Kinder oder sogar Erwachsene mit Hilfe von stetiger Bibellektüre und Missionarssprüchen funktioniert, wird ersichtlich an Sulamiths Mutter und der Figur Cola. Das Mädchen, das auf einer heruntergekommenen Biberfarm und an der Seite ihres trinkenden Vaters aufwächst, wird von Esthers Familie aufgenommen.
Geschichtlicher Hintergrund
Die Autorin lässt die Zeit der 80er- und 90er-Jahre und ihre jeweilige Stimmung intensiv aufleben. Es sind die Jahre von „Wetten, dass…“ und den Hits von Roxette, aber auch die Ära eines politischen wie gesellschaftlichen Wandels, in der ein System abdankt, im Osten Lehrer aus den Schulen verschwinden, Bücher aus Bibliotheken entfernt und einstige Industrieareale plattgemacht und durch Supermärkte ersetzt werden. Dieser geschichtliche Hintergrund, der auch in den Lebenswegen von Esthers Onkel und Großmutter angelegt ist, hätte gut und gerne noch etwas ausführlicher und schärfer umrissen sein können. Allzu schnell taucht die Figur des abtrünnigen Onkels auf, allzu schnell ist sie wieder verschwunden. Auch das Schicksal der Großmutter wird nur in einigen wenigen Passagen angedeutet. Trotz alledem ist „Kein Teil der Welt“ – einen besseren Titel hätte es wohl für diesen Kontrast nicht geben können – ein lehrreicher, vor allem auch sehr berührender und teils erdrückender Roman, der zeigt, welchen immensen Einfluss der Glaube und die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas auf das Leben eines Mitglieds und dessen Beziehungen hat.
Weitere Besprechungen auf den Blogs „Poesierausch“ und „aus.gelesen“.
Stefanie de Velasco: „Kein Teil der Welt“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, 432 Seiten, 22 Euro