Ulrike Draesner – „Schwitters“

„Es gibt keinen Ort, der ein Zuhause ist. Man musste ein Zuhause immer erfinden.“

Wenn die Heimat das eigene Leben bedroht, wird die fremde Ferne zum rettenden Land. Doch Kurt will nicht gehen. Hier sind seine Heimat, seine Frau, seine Kunst. Doch sie reden auf ihn ein: Freunde, Kollegen, sogar Helma. In den ersten Tagen des Jahres 1937 setzt er seinen Zweifeln ein Ende. Der Mann, der Künstler, verlässt Frau und Haus und reist dem Sohn Ernst gen Norden hinterher. Es sollte eine Reise ohne Wiederkehr werden. Ulrike Draesner widmet sich in ihrem meisterhaften Roman Kurt Schwitters (1887 – 1948), dem eigenwilligen Künstler der Moderne und Mitbegründer der internationalen Dada-Bewegung, sowie seinen letzten elf Lebensjahren. Ein Buch, das weit mehr erzählt als von einem berühmten Mann, der die Kunst zur Lebensform erhoben hat.

Mit dem Eisbrecher gen Westen

Seine Kunst ist den Nazis ein Dorn im Auge, als Epileptiker gilt er als unwertes Leben, zudem gehört sein Sohn dem linken Widerstand an. Schweren Herzens flieht er nur wenige Jahre vor Kriegsbeginn nach Norwegen, in den Norden, in dem die Familie sich wohlfühlt, hier bereits einige Sommer verbracht hat. Doch die Bedrohung rückt näher, die Wehrmacht überfällt das skandinavische Land, das Flüchtlingen keinen Schutz bietet. Auf einem nach dem Polarforscher Fridtjof Nansen benannten Eisbrecher setzen Vater und Sohn unter Lebensgefahr von der nordnorwegischen Stadt Tromsø nach Großbritannien über, kurze Zeit nachdem die norwegische Königsfamilie ihre Heimat ebenfalls verlassen hat. Beide werden in mehreren Lagern interniert; zuletzt im Hutchinson Internment Camp in Douglas auf der Isle of Man.

Nach seiner Entlassung im Dezember 1941 lernt Schwitters die nahezu 30 Jahre jüngere Edith Thomas, kurz Wantee genannt, kennen – und lieben. Seine Frau Helma ist in Hannover geblieben, um sich um ihre Eltern, Kurts Kunst und das Haus zu kümmern – der Hitler-Begeisterung ihrer Mutter und den regelmäßigen Durchsuchungen der Gestapo ausgesetzt. Sie werden sich nicht mehr wiedersehen, eine wehmütige Sehnsucht nach seiner Frau und der gemeinsamen Vergangenheit wird Schwitters trotz einer neuen Liebe niemals verlassen. Der Schmerz ist groß, als sie 1944 ihren Kampf gegen den Krebs verliert. Sein Haus in Hannover-Waldhausen mit einem seiner bedeutendsten Werke, dem sogenannten Merz-Bau, wird bereits wenige Jahre zuvor zerbombt. Eine Kunstform, die er indes in der Fremde weiterführt. In Norwegen entstehen zwei dieser raumfüllenden Installationen, eine neue in einer Scheune nahe dem nordenglischen Ambleside, wohin es Schwitters und Wantee schließlich zieht.

„Er überträgt das Funkeln der Wiesen, die Durchsichtigkeit der Luft. Jedes Stück Abfall, jede Anekdote. jedes sprechende, jedes stumme Gesicht sind ihm willkommen. Kunst handelt nicht von ihrem Künstler. Sie handelt nicht von sich. Nicht einmal von ihrem Gegenstand. Sie erzeugt ihn.“

Wikipedia/Genja Jonas

Eindringlich und berührend erzählt die preisgekrönte Autorin und Professorin am Literaturinstitut Leipzig davon, was es bedeutet, eine neue Sprache sich aneignen zu müssen, weil die vertraute die des Feindes ist und nunmehr ungeliebt, was es bedeutet, alles zurückzulassen, entwurzelt zu sein, sein Schaffen an einem fremden Ort neu zu entwickeln, sich künstlerisch neu zu verorten. Nicht nur der Drang zum stetigen künstlerischen Schaffen in den verschiedensten Ausprägungen und Genres, auch ein unbändiger Optimismus ist Schwitters eigen. Trotz dieser dunklen Zeit, trotz seiner schwindenden Gesundheit. Und immer wieder holt Schwitters, nicht immer eine Sympathie-Figur, darüber hinaus die Vergangenheit ein, während sich die Feinde seiner Zuflucht nähern und London mit einem Bombenhagel überziehen. Halt und Kraft geben ihm indes die Kunst, seine große und innige Liebe Wantee und die englische Landschaft mit ihrem Licht, ihren Farben, der Tier- und Pflanzenwelt.

Über den Tod hinaus

Der vielschichtige wie lehrreiche Roman, der besonders gestaltet ist, lässt auch die Jahre nach Schwitters Tod 1948 im Alter von nur 60 Jahren nicht unberührt. Wantee und Schwitters Sohn Ernst, der sich später wieder nach Norwegen begibt und sich zu einem erfolgreichen Fotografen entwickelt, führen einen jahrelangen und heftigen Rechtsstreit um sein Erbe, schließlich in den 1960er-Jahren wird sein englischer Merzbau wiederentdeckt. „Schwitters“ ist ein Meisterwerk mit Anspruch und zugleich einer großen, unwiderstehlichen Sogwirkung, die den Leser in die Lebens- und -Leidensgeschichte und in die komplexe Seele eines unvergleichlichen Künstlers hineinzieht – dank einer virtuosen und lebendigen Sprache, die die Liebe zu ihr in sich trägt. Auch diverse Anspielungen auf Kunst und Literatur sowie ihren Schöpfern und ein weiser Humor, der sich angesichts der Gräuel und Unmenschlichkeit der Dunkelbraunen, in einer tiefen Schwärze zeigt, finden sich darin. Ein großes Buch, dem man sich wieder und wieder widmen kann und sollte, weil es so reich in vielerlei Hinsicht ist.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „AstroLibrium“, „Literaturleuchtet“ und „Buch-Haltung“.


Ulrike Draesner: „Schwitters“, erschienen im Penguin Verlag; 480 Seiten, 25 Euro

Foto von Roxxie Blackham auf Unsplash

6 Kommentare zu „Ulrike Draesner – „Schwitters“

    1. Das habe ich auch schon festgestellt. Eine meiner kommenden Lektüren wird im Übrigen bald „Cloris“ sein, den Roman hast Du ja gerade vorgestellt. Und „Die Erfindung des Countdowns“ ist auch in Reichweite. Der Herbst hat aber auch wundervolle Bücher zu bieten. Viele Grüße zurück

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