Lukas Rietzschel – „Raumfahrer“

„Nachkriegszeit und Nachwendezeit. Trümmer beseitigen, nicht nur die Brocken und Steine eingestürzter Häuser.“

Kamenz – Kleinstadt in Sachsen. Die Kohlegrube Lausitz vor der Haustür, das barocke und edle Dresden ein Katzensprung entfernt. Hier ist Lessing zur Welt gekommen, der Ortsteil Deutschbaselitz gab dem Maler Hans-Georg Kern, besser bekannt als Georg Baselitz, einen Teil seines Künstlernamens. In diese geschichtsträchtige Gegend in Ostdeutschland führt Lukas Rietzschel in seinem zweiten Roman „Raumfahrer“, der darin auf wundersame Weise die Geschichte zweier Familien und das Leben eines jungen Mannes mit dem eines berühmten Künstlers verknüpft. Eine spezielle Erwartung kann das eindrückliche Buch allerdings dennoch nicht erfüllen.

Von dunklen Kapiteln der Familiengeschichte

Die Tage des Krankenhauses, in denen Jan als Pfleger arbeitet, sind gezählt. Mittlerweile erkunden bereits die Tiere des Waldes das Gebäude, in denen noch der eine oder andere Patient versorgt wird. Darunter der Alte, ein Mann im Rollstuhl, den Jan zu dessen Behandlungen bringt, wenn er nicht gerade seine Zeit mit der jungen Ärztin Karolina verbringt, für die er Gefühle hegt. Eines Tages bittet der den Pfleger um einen Besuch bei sich zu Hause. Mit einem Paket aus verschiedenen Dokumenten tritt Jan schließlich den Heimweg an, nichtsahnend, dass er gerade ein Stück Geschichte unter dem Arm trägt und seine Familie eng mit der des bekannten Malers Georg Baselitz verbunden ist. Der Alte ist Thorsten Kern, Sohn von Günter Kern, dem Bruder Hans-Georg Kerns, der 1961 sich den Namen Georg Baselitz gegeben hat. Jan wird mit dem schrecklichen Vorwurf konfrontiert, dass seine Familie das Leben der Kerns zerstört habe, dabei kann er nichts wissen von den dunklen Kapiteln seiner Familienhistorie, Ereignisse, die auch das Leben seiner Eltern in den Abgrund gerissen haben. Diese lebten in den letzten Jahren getrennt, ehe die  Mutter an den Folgen ihres übermäßigen Alkoholkonsums starb. Jan begibt sich schließlich auf die Spuren von Baselitz, obwohl sein Vater, mit dem er zusammenlebt, wenig davon hält.

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In beide Familien haben sich die Zeitläufte eingegraben, drei verschiedene Gesellschaftssysteme haben tiefe Spuren hinterlassen. Krieg und die Nachkriegszeit haben die Brüder Kern und ihre Eltern geprägt, später war es die DDR, in der sie getrennt wurden. Hans-Georg zog es zum Studium erst nach Ost-Berlin, das er ab 1958 in West-Berlin fortsetzte. Günter blieb zurück – trotz der Bestrebungen der Brüder, wieder zusammenzukommen. Sein Leben führte er als Fahrschullehrer, gefangen in den Klauen der Stasi. Jan ist hingegen ein Kind der Wende, im letzten Jahr der DDR geboren. In seinem jungen Leben hat er bereits gesehen, wie die Schule abgerissen, an Ort und Stelle ein Supermarkt errichtet wurde, nahe der Plattenbausiedlung eine Einfamiliensiedlung entstand, die Jungen die Alten verließen und in den Westen zogen. Es ist ein ernüchterndes, jedoch realistisches und überzeugendes Bild, das Rietzschel da zeichnet. Wer in der DDR aufgewachsen ist, hier weiterhin lebt, kennt diese Bilder, die das Grelle neben dem Grauen, das Neue neben dem Verfallenen zeigen.

„Eine Erschütterung und alles würde auseinanderfallen. Baselitz hatte den letzten Moment einer noch irgendwie intakten Welt festgehalten, für alle sichtbar, dass es sie danach nicht mehr geben würde.“

Rietzschel, 1994 in Räckelwitz in der Oberlausitz geboren, schreibt eindrücklich darüber, was die große Geschichte und Politik mit dem Leben der Menschen machen, wie die Älteren gegenüber den Jüngeren schweigen, wie Familien auseinanderbrechen, die Bindungen zwischen den Generationen sich auflösen, traumatische Erfahrungen weiter gegeben werden. Was im Roman nicht ohne überraschende Wendungen und Schockmomente geschieht. Bereits in seinem preisgekrönten und vielbeachteten Debüt „Mit der Faust in den Wind schlagen“ (Ullstein), das bereits auf mehreren deutschen Bühnen aufgeführt wurde, erschafft er eine Milieustudie der ostdeutschen Provinz, schreibt darin über zwei Brüder, die in ihrer Perspektivlosigkeit unterschiedliche Wege gehen.

Baselitz
Georg Baselitz 1971 (Foto: Lothar Wolleh/Wikipedia)

Obwohl nun „Raumfahrer“ die Biografie eines prominenten Künstlers aufnimmt und auf faszinierende Weise mit fiktiven Charakteren verbindet, hätte der Roman gerade darin noch etwas ausführlicher sein können. Baselitz, 1938 als Sohn eines Lehrerehepaares im Kamenzer Ortsteil Deutschbaselitz geboren, prägte die Kunst der Moderne. Krieg und Zerstörung sind seine großen Themen. Für Aufregung sorgte er mit seinen Bildern, bei denen das Motiv auf dem Kopf steht, darüber hinaus provozierte er mit seinen als obszön geltenden Bildinhalten. Seit mehreren Jahren lebt er in Salzburg, 2015 erhielt er die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Seine Werke – ein Bild spielt in dem Roman eine Schlüsselrolle – sind weltweit in Sammlungen vertreten. Noch bis März 2022 zeigt das Centre Pompidou in Paris eine Retrospektive. Spannend ist es, wie Rietzschel das Interesse weckt, sich in der Lausitz auf den Spuren des Künstlers zu begeben, der im Gegensatz zu Lessing kaum in Verbindung mit Kamenz gebracht wird. Unterstützung erfuhr der Schriftsteller bei seiner Recherche von Günter Kern, den er in seiner Danksagung ausführlich bedachte; auch weil er der Fiktionalisierung der realen Vorlage zugestimmt hat.

Trotz dieses kleinen unerfüllten „Wunsches“ – womöglich aus der Neugierde entstanden, mehr über Baselitz zu erfahren – lohnt sich die Lektüre des Buches ungemein. Der Görlitzer erschafft nicht nur markante Personen und verarbeitet die verschiedenen Schichten der Zeitgeschichte auf beeindruckende Weise.  Darüber hinaus beweist sein prägnanter kurzsätziger Schreibstil die Liebe zum Detail. Nachdem ich Rietzschels Debüt zugegeben mit einer gewissen Skepsis ausgewichen bin, werde ich wohl nach der prägenden Lektüre von „Raumfahrer“ – der Titel bezieht sich auf eine Passage im Buch – recht schnell zu dessen neuen Roman greifen, wenn er dann erscheint.


Lukas Rietzschel: „Raumfahrer“, erschienen im dtv Verlag; 288 Seiten, 22  Euro

Foto: Tama66/pixabay

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