„Man darf nur ein Gesicht auf einmal haben.“
Die Wiederentdeckung der dänischen Autorin Tove Ditlevsen (1917 – 1976) mit ihrer autobiografischen Kopenhagen-Trilogie aus den Bänden „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“ bestehend und in den Jahren 1967 bis 1971 wenige Jahre vor ihrem Freitod erschienen, kam einer literarischen Sensation gleich. Nun kann auch ihr Roman „Gesichter“ entdeckt werden. Ein eindrückliches, aber auch herausforderndes Werk mit einem ebenfalls kurzen, prägnanten Titel, das auch in Zusammenhang mit ihrer Trilogie gelesen werden kann, vielleicht auch sollte. Denn auch darin gibt es, wenngleich fiktiv, autobiografische Anklänge und Bezüge, wenn die Skandinavierin darin über das Thema Psyche und die Psychose einer Autorin schreibt.
Eine andere Welt
Lise Mundus ist bekannt geworden als Kinderbuch-Autorin. Nun befindet sich die Mutter dreier Kinder in einer Schreibkrise. Ihre Ehe mit Gerd, dessen Geliebte sich das Leben nimmt, ist brüchig. Lise glaubt, dass er ein Verhältnis mit der Haushälterin Gitte hat und sie gemeinsam in den Selbstmord treiben wollen. Sie nimmt Schlaftabletten und leidet unter Halluzinationen. Sie sieht Gesichter und hört Stimmen. Die Welt in ihrem Kopf ist eine andere. Mit einer Überdosis, willentlich eingenommen, kommt sie in die psychiatrische Abteilung des Staatshospitals. Nach bereits kurzer Zeit wird sie in die geschlossene Abteilung verlegt. Ihr Zustand verschlechtert sich. Sie wittert um sich Verschwörungen, glaubt, dass sich in ihrem Kissen ein Mikrofon befindet. Die Pfleger und Ärzte verwechselt sie mit ihr bekannten Personen. Mit dem Schreiben, zu dem sie Dr. Jørgensen animiert, verbessert sich jedoch zusehends ihr Zustand.
Obwohl dieser Roman recht schmal ist, aus nur etwas mehr als 150 Seiten und 16 kurzen Kapiteln besteht, finden sich darin zahlreiche Themen. Im Zentrum des dicht gestrickten Geschehens steht das psychische Leiden der Protagonistin in all ihren Phasen, das den Leser immer wieder vor eine große Herausforderung und die Frage stellt: Was spielt sich nur im Kopf der Heldin ab und was entspricht mit Blick auf die Handlung des Romans der „Wirklichkeit“? Die Szenen in der Psychiatrie tragen vielfach surreale Züge und haben eine beklemmende Wirkung – vor allem wegen der erstaunlichen Unmittelbarkeit der meist bildhaft beschriebenen Geschehnisse und des intensiven Blicks in das Innere der Hauptperson. Der Aufenthalt in der Psychiatrie erscheint wie der Druck auf den berühmten Reset-Kopf, das Schreiben schließlich ein Heilmittel zu sein. Sie findet zur Sprache zurück, von der sie sich allerdings nie völlig losgesagt hat. Lyrik begleitet sie in dieser schweren Zeit immer, so finden sich in diesem Buch Gedichte und literarische Verweise, so auf Hans Christian Andersen und Rainer Maria Rilke, auf die Übersetzerin Ursel Allenstein in ihrem sehr aufschlussreichen Nachwort eingeht.
„Das Schreiben war immer ein Spiel für Lise gewesen, eine beglückende Beschäftigung, die es ihr ermöglichte, alles andere auf der Welt zu vergessen.“
Darin klärt sie auf über die Bezüge zwischen dem Roman und dem Leben der Autorin. So trägt die Heldin den Namen von Ditlevsens Mutter. Wie die Protagonistin leidete die Dänin unter ihrer Tablettensucht, wurde mit nur einem Körpergewicht von 35 Kilogramm in eine Entzugsklinik gebracht. Wie in der Trilogie wird auch in „Gesichter“ das intensive Bemühen einer schreibenden Frau, Anerkennung zu finden, geschildert, gibt es Seitenhiebe gegen den von Männern dominierten Literaturbetrieb, in dem Kinderbuch-Autorinnen still belächelt werden und deren Texte auf den „Damen“-Seiten der Zeitung erscheinen. Stets geht es um die Suche nach Anerkennung und einer eigenen Identität, die sich im besten Fall aus dem Zusammenwirken der äußeren Welt und der inneren Welt des Schreibens ergibt und für die man sich nicht stets und ständig rechtfertigen muss.
„Es gibt keinen Weg zur Liebe. Die Liebe legt sich quer über den Weg, und wenn sie verschwindet, ist der Weg zerstört.“
„Gesichter“ erschien 1968 mit dem Originaltitel „Ansigterne“, ein Jahr nachdem die beiden ersten Bände der Kopenhagen-Trilogie veröffentlicht wurden. Ditlevsen sollte nur noch wenige Jahre leben. Im Gegensatz zu ihrer Heldin Lise Mundus kann sie nicht zum rettenden Telefonhörer greifen, sie stirbt im März 1976 an einer Überdosis Schlaftabletten, nachdem sie in den Vorjahren zuvor mehrfach versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Und im Gegensatz zur Protagonistin hat sie selbst nie den Preis der dänischen Akademie erhalten. Ein Detail im Roman, das ihren Humor und wohl auch ihre charakterliche Größe beweist.
Platz nach ihr benannt, GEdichte vertont
Trotzdem sollte nunmehr die Autorin und ihr großartiges Werk in Erinnerung bleiben – nicht nur durch die aktuelle Wiederentdeckung und Veröffentlichungen ihrer Bücher. Im Kopenhagener Stadtteil Vesterbro, in dem sie aufgewachsen ist, wurde ein Platz nach ihr benannt. Die norwegische Liedermacherin und Sängerin Kari Bremnes vertonte bereits 1987 Ditlevsens Gedichte unter dem Titel „Mitt Ville Hjerte“. Manchmal braucht es eben Zeit – sowie interessierte, für schwierige weil auch emotional herausfordernde Themen offene Leser, die die Erinnerung an besondere Autorinnen wachhalten.
Weitere Besprechungen sind auf den Blogs „Nordseiten“ und „literaturleuchtet“ zu finden.
Tove Ditlevsen: „Gesichter“, erschienen im Aufbau Verlag, in der Übersetzung von Ursel Allenstein; 160 Seiten, 20 Euro
Foto von pawel szvmanski auf Unsplash
ich fand das richtig gut! und auch leider immer noch aktuell…
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Ja, das ist richtig und da hat Du recht. Es ist gut, dass es solche Literatur gibt, die auf psychische Leiden und ihre Folgen aufmerksam machen, auch wenn sie keine einfache Lektüre bereiten. Liebe Grüße
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