Christiane Hoffmann – „Alles, was wir nicht erinnern“

„Ich gehe den Weg Deiner Entwurzelung, unser aller Entwurzelung.“

Zu Fuß. Allein. 558 Kilometer weit. Begleitet von Erinnerungen und der Familiengeschichte. Am 22. Januar 2020 begibt sich die Journalistin und Autorin Christiane Hoffmann auf eine monatelange Tour. Der Startpunkt: der kleine schlesische Ort Rózyna, der früher Rosenthal hieß. Hier wuchs ihr Vater auf, der noch Kind war, als seine Familie die Flucht antrat – an einem 22. Januar 1945. Mit „Alles, was wir nicht erinnern“ erzählt sie ihre Erlebnisse auf den Spuren ihres Vaters und der Familie, die wenige Monate vor Kriegsende ihre Heimat verloren hat und nie wirklich angekommen ist. Ein Buch, das über die berührende Familiengeschichte hinaus auch auf die Folgen von Krieg und Flucht hinweist.

50 Pferdegespanne

Es ist bitterkalt. Ein Schneesturm hat sich angekündigt. Seit Tagen hallt der Geschützdonner über das Land. Mit 50 Pferdegespannen tritt der Großteil der Einwohner von Rosenthal – darunter ein Neugeborenes und eine betagte Frau von 90 Jahren – die Flucht an aus Angst vor den Russen. Mittendrin: Adolf, der Vater der Autorin, der später den Namen Walter erhalten wird. Der Junge, neun Jahre alt, von einer Pferdedecke umhüllt, wird nur von seiner Mutter Olga und zwei Verwandten begleitet, der Vater Herbert und die beiden ältesten Brüder Manfred und Gotthard sind im Krieg. Der Treck zieht von Ort zu Ort, Kilometer für Kilometer. Sowohl die Dorfgemeinschaft als auch die Familie wird mit Krieg und Flucht folgend in alle Himmelsrichtungen verstreut und nie mehr zusammenkommen wie einst. Einige verlieren ihr Leben, einige gelten als verschollen. 14 Millionen Menschen flüchteten in den letzten Kriegsmonaten aus den deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße; das ist ein Fünftel der damaligen deutschen Bevölkerung.

20220703_094545 (1)

Genau 75 Jahre später zieht auch Hoffmann los. Die Tochter, die ein echtes Heimatgefühl nie in sich spüren konnte, die nur wenig erfahren hat vom Schicksal ihres Vaters und ihrer Großeltern. Auslöser ist der Tod ihres Vaters. Auf ihrem Weg kommt sie mit unzähligen Menschen ins Gespräch, die nicht immer von den damaligen Geschehnissen berichten können, die aber ebenfalls eine Fluchtgeschichte der Familie in sich tragen. So stammen die Piwinskis, die Bewohner des Hofes, in dem Adolf/Walter einst aufwuchs, aus Ostpolen, das später der Sowjetunion zugeschlagen wurde und heute Teil der Ukraine ist. Zu der Familie haben die Hoffmanns über Jahrzehnte Kontakt gehalten. Mehrfach besuchen sie das schlesische Dorf mit der Königin der Blume im Namen. Die Zeit vergeht, der Ort wandelt sich. Mehr und mehr junge Leute haben sich hier eine Zukunft aufgebaut. In Rózyna zieht neues Leben ein.

Nach Skepsis Gastfreundschaft

Die Autorin schildert die wechselnden Landschaften, die Beschwerlichkeit des Weges, die Strapazen der Tour – und ihre zahlreichen Museumsbesuche und Begegnungen. Nach anfänglicher Skepsis erfährt sie oft Interesse und auch Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Sie bekommt ab und an eine Unterkunft und einmal eine Mitfahrgelegenheit. Bis auf diese eine Unterstützung eines Hotelbesitzers, der sie mit dem Auto abholt, sowie ein Teilstück, für das sie Bus und Bahn nutzen muss, da es militärisches Sperrgebiet ist, legt sie nahezu die komplette Strecke von Rózyna bis nach Křižovatka (Klinghart) im böhmischen Egerland, ein Weg aufgeladen von Geschichte und Geschichten, zu Fuß in zwei Abschnitten und teils inmitten der Corona-Pandemie zurück. Das Frage-Antwort-Spiel „Zu Fuß? Zu Fuß. Allein? Allein“ wird zu einem Mantra. Hoffmann erfährt die Spannungen zwischen Deutschen und Polen, zwischen Deutschen und Tschechen, trifft auf Menschen, die Hitler noch immer verehren, das unfassbare Verbrechen des Holocaust entschuldigen. Der Schrecken der Geschichte scheint zu verblassen, die persönlichen Schicksale und das Leid sind nahezu vergessen. Immer wieder erhält sie auf ihre Fragen keine Antworten – damals wie heute nicht. Folgen des Schweigens und des Nichtwissens.

„Es ist an mir, Deine Geschichte zu erzählen, die Welten zu verbinden, das Erbe anzureichern, die Erinnerung zu speichern, zu konservieren, einen Vorrat für kommende Generationen anzulegen, ihn zu horten und zu hüten. Dieses Buch ist Dein Testament.“

Der Osten lässt die Autorin zeit ihres Lebens nicht los. Als Kind und Jugendliche lernte sie während der Reisen ihrer Familie Niederschlesien kennen. Ihre Mutter stammt aus Ostpreußen. Sie studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Journalistik in Freiburg, Leningrad und Hamburg. Als Auslandskorrespondentin berichtete sie aus Moskau und Teheran. Heute ist Hoffmann stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Sie gehört dem Deutsch-Russischen Forum an und lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Trauma auch späterer Generationen

„Alles, war wir nicht erinnern“, das für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert war, vereint das Allgemeine mit dem Besonderen – das allgemeine Thema Flucht, das sich bis ins Hier und Jetzt erstreckt und aktuell wie nie ist, mit den persönlichen Erlebnissen um 1945 und den traumatischen Folgen für die damalige wie die spätere Generationen der Hoffmanns. Gerade darin baut dieser vielschichtige Band eine emotionale Bindung zum Leser auf und vermittelt das Thema Flucht und Vertreibung. Das Leid der Hoffmanns wird an den verschiedenen Schicksalen der einzelnen Familienmitgliedern allzu sehr deutlich: Selbst die „Davongekommenen“ sind gezeichnet. Oma Olga, die im Harzer Bergbau Zwangsarbeit leisten musste, Opa Herbert, der nach Jahren der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war – als ein Schatten seiner selbst.

Es ist ungemein berührend, wenn die Autorin ihre Beziehung zum Vater, den sie im Text oft direkt anspricht, und dessen besonderen Charakter beschreibt oder davon erzählt, dass der Familie damals nichts geblieben ist. In jenen zwei Bündeln, mit denen Olga und Adolf/Walter den letzten Teil ihrer Flucht antraten, befanden sich keinerlei Erinnerungsstücke an die Heimat. Nichts gibt es zu vererben. Immer wieder werden Stimmen laut, dass es nun an den jüngeren Generationen ist, die Erinnerungen der Älteren wachzuhalten. Dieser aus der Masse der Erinnerungsliteratur herausstechende Band nimmt sich dieser herausfordernden wie verantwortungsvollen Aufgabe an und bleibt im Gedächtnis des Lesers.


Christiane Hoffmann: „Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“, erschienen im Verlag C.H. Beck; 279 Seiten, 22 Euro. Mit 12 Abbildungen aus dem Archiv der Autorin sowie einer Karte von Peter Palm, Berlin.

Foto von freestocks auf Unsplash

4 Kommentare zu „Christiane Hoffmann – „Alles, was wir nicht erinnern“

  1. ich danke dir sehr für diese Beschreibung! Bis jetzt ist das – obwohl ich es in der Buchhandlung schon oft verkauft habe – voll an meinem eigenen Interesse vorbei gerauscht. Doch jetzt denke ich, ich sollte es unbedingt lesen!

    Gefällt 1 Person

Kommentar schreiben

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..