Drago Jančar – „Als die Welt entstand“

„Ach, die Kindheit. Das Entsetzliche sehen, um das Schöne zu erkennen. Die Angst, um dem Mut zu begegnen.“ 

Maribor. Die 50er-Jahre neigen sich dem Ende entgegen. Der Krieg ist mittlerweile längst Geschichte. Seine Spuren sind jedoch noch immer zu sehen – und zu spüren, während ein neues politisches System am Entstehen ist. Mittendrin: Danijel, der junge Held im neuen Roman des slowenischen Schriftstellers Drago Jančar, mit dem er ein eindrückliches Porträt eines Jungen, seiner Familie sowie einer Stadt und eines Landes im Umbruch in einer besonderen Zeit geschrieben hat.

Vater im Widerstand, die Mutter religiös

Jančar ist 1948 in Maribor geboren. Die Stadt, auf Deutsch Marburg an der Drau, ist seine Heimat, die er schon mehrfach in seinen Romanen verewigt hat, unter anderem in seinem bekanntesten Werk „Severni sij“ (1984, „Nordlicht“). So liegt es wohl auch nahe, dass der Slowene in seinem neuesten Buch eigene Erlebnisse und Erinnerungen verarbeitet hat. In das Zentrum stellt er Danijel, der umgeben ist von einer Reihe ihn prägende Personen, was seine Kindheit nicht einfach macht. Denn jeder hat unterschiedliche politische Ansichten, eine andere Haltung. Seine Mutter, dessen große Liebe nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist, schickt ihn in den Religionsunterricht zu Kapuziner-Pater Aloisius, während der Vater die Religion verachtet. Als einstiger Widerständler hat er das Lager gerade so überlebt. Mit seinen Kameraden des Kämpferbundes feiert er den Sieg über Nazideutschland und versinkt im Alkohol – zu Hause oder bei regelmäßigen Zechtouren durch die Gasthäuser der Stadt. Und da ist noch der weise Professor Fabjan, der Danijel in die Welt der Bücher führt.

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Die Handlung beginnt mit einem unvorhergesehenen Ereignis: In das Mietshaus, wo Danijel wohnt, zieht an einem Frühlingstag Helena, eine junge attraktive Frau, die von allen nur Fräulein Lena genannt wird, ein. Danijel sieht sie schon an der Seite seines Bruder, eines adretten Marinesoldaten. Doch noch kann er nicht ahnen, dass die neue Nachbarin bald im Mittelpunkt eines entsetzlichen Verbrechens aus Leidenschaft steht, dem Pepi, der naive, aber liebenswerte Spengler und Blitz-Fänger mit den großen Händen, zum Opfer fallen wird. Denn Lena steht zwischen zwei Männern: eben Pepi und dem windigen Guido, alias Ljubo, der mit dem schnellen Motorrad durch das Viertel rauscht und mit dem sie so schön tanzen kann. Pepi ist nicht der einzige Mensch, den Danijel im Verlauf von nur wenigen Monaten verlieren wird. Denn einige zieht es in den Westen, andere werden von der Miliz verhaftet. Und sein Vater muss in die Klinik, weil er schwer erkrankt.

Gespaltenes Land

„Als die Welt entstand“ bietet eine faszinierende wie fordernde Lektüre mit Sogwirkung. Nicht nur entwirft der Slowene dank der heterogenen Figuren ein vielfältiges Abbild der Gesellschaft, in denen sich der Krieg eingeschrieben hat, die gespalten ist, weil die einen gegen die Nazis gekämpft, andere mit ihnen gemeinsame Sache gemacht haben und nun im Nachkriegsjugoslawien mit dem Sozialismus unter Tito ein politischer Gegenentwurf aufgebaut werden soll. Zudem ist der Roman reich an biblischen Verweisen: Da sind David und Goliath – und eben auch Daniel, der Traumdeuter und Seher. Der junge Held mit leicht abgewandelter Schreibweise beweist viel Fantasie; gerade seine besondere kindliche Perspektive auf die Ereignisse lässt einen ganz eigenen, zwischen Realität und Fantasterei schwankenden Blick auf das Geschehen zu.

„Aber Friede ist nur der Zeitabschnitt zwischen zwei Kriegen.“

Jančar zählt zu den namhaftesten Schriftstellern seines Landes. Zwar schloss er ein Studium der Rechtswissenschaften ab, doch war er daraufhin nie als Jurist tätig. Ihn zog es in den Journalismus, wo er zuerst einige Jahre als Redakteur bei der Mariborer Tageszeitung „Večer“ tätig war. Er verlor jedoch seine Stelle, als er wegen „Verbreitung feindlicher Propaganda“ zu einem Jahr Haft verurteilt wurde. Mit dem Umzug nach Ljubljana lernte er mehrere Intellektuelle und Künstler kennen. Er arbeitet in einem Filmstudio und verfasste Drehbücher. Der Slowene setzte sich für die Selbständigkeit seines Heimatlandes ein und sah auch den Zerfall Jugoslawiens voraus. Sein Schaffen ist vielfältig und umfasst neben Romanen auch Essays und Theaterstücke. Seine Werke sind in zahlreichen Sprachen übersetzt worden.

Gastland auf der Frankfurter Buchmesse

Slowenien wird in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse sein und sich vom 18. bis 22. Oktober unter dem Motto „Waben der Worte“ präsentieren. Ein kleines Land in der Mitte Europas – mit einer wechselvollen Geschichte und einer reichen Buchkultur, die sich unter anderem auch in den „nationalen“ Euro-Münzen widerspiegelt, die zwei mit der Literatur verbundene Persönlichkeiten darstellen: den Priester und Autor des ersten slowenischen Buches, Primož Trubar, sowie den Dichter France Prešeren. Es ist eines der kleinsten Länder mit dem Titel Gastland einer Buchmesse, dabei kann es jedoch mit der zweithöchsten Zahl der herausgegebenen Bücher pro Einwohner (nach Island) und mit einem ausgeprägten Netzwerk an öffentlichen Bibliotheken aufwarten.

„Wenn Mama solche Angst um Vaters amerikanischen Anzug hat, was ist dann erst mit der weißen Marschallsuniform des Genossen Tito, wenn er sie beim Gulaschessen anhat.“

Die Buchmessen sind seit jeher Bühne für die einen, Entdeckungsort für die anderen. Mehr als 70 Autoren, Übersetzer und Lyriker werden in Frankfurt erwartet. Im Reigen der osteuropäischen Länder erhielt Slowenien in der Vergangenheit wohl eher weniger Beachtung, wobei es bereits in jüngster Zeit mit ansprechenden und lohnenden Titeln, die ins Deutsche übertragen wurde, mehrfach das Interesse auf seine Literatur lenken konnte. Ich denke unter anderem an Aleš Šteger und sein Roman „Neverend“ oder an den Roman „Unter dem Feigenbaum“ von Goran Vojnović.

Frankfurt lädt ein, Land und Literatur Sloweniens zu entdecken. Und Drago Jančar mit seinem großen Roman „Als die Welt entstand“ weckt einmal mehr die Aufmerksamkeit für sein Heimatland. Ein Erzähler, der auch in seinem neuesten Roman seine Lebenserfahrung, ein bestechendes Sprachgefühl und viel Menschlichkeit unter Beweis stellt und Melancholie mit einem leisen Humor auf unnachahmliche Weise verbindet.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „LiteraturReich“.


Drago Jančar: „Als die Welt entstand“, erschienen im Zsolnay Verlag, in der Übersetzung aus dem Slowenischen von Erwin Köstler; 272 Seiten, 26 Euro

Bild von Maria Teresa Martínez auf Pixabay

5 Kommentare zu „Drago Jančar – „Als die Welt entstand“

  1. Dieser Artikel über Drago Jančars neuesten Roman „Als die Welt entstand“ bietet einen faszinierenden Einblick in die literarische Welt des Autors und die Geschichte Sloweniens. Es ist beeindruckend zu sehen, wie Jančar in seinem Werk die Umbruchszeit der 50er-Jahre in Maribor einfängt, eine Zeit, die von den Spuren des Krieges und dem Aufkommen eines neuen politischen Systems geprägt ist.

    Die Vielfalt der Figuren und die gesellschaftlichen Konflikte, die in dieser Zeit herrschten, spiegeln sich eindrucksvoll in Jančars Erzählung wider. Es ist faszinierend zu lesen, wie er biblische Verweise in die Geschichte einwebt und gleichzeitig die kindliche Perspektive seines Protagonisten Danijel nutzt, um eine einzigartige Sicht auf die Welt zu vermitteln.

    Die Tatsache, dass Slowenien dieses Jahr Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist, bietet eine großartige Gelegenheit, die reiche Literatur dieses Landes zu entdecken. Drago Jančar ist zweifellos einer der herausragenden Autoren Sloweniens, und sein Werk zeigt, wie Literatur dazu beitragen kann, Geschichte und Gesellschaft auf eindrucksvolle Weise zu reflektieren.

    Ich freue mich auf die Gelegenheit, mehr von Drago Jančars Werken zu entdecken und hoffe, dass seine Bücher auch international die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Dieser Artikel hat mein Interesse geweckt und mich neugierig auf „Als die Welt entstand“ gemacht.

    Mit freundlichen Grüßen
    Miss Katherine White
    https://www.miss-katherine-white.com/der-hass-steht-ueber-allem/

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  2. „… ein politischer, von der Sowjetunion gelenkter Gegenentwurf aufgebaut werden soll…“ Es war ja gerade das Besondere an Tito, dass er sich schon in den 1950ern von Moskau losgesagt hat. Daher kann ich mich glauben, dass das so im Buch steht.

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