Dana Vowinckel – „Gewässer im Ziplock“

„Würde es immer so weitergehen, dass eigentlich jede Erinnerung wie ein Film aus einem anderen Leben war, das sie niemals jemandem komplett offenbaren könnte?“

Literatur gewinnt ihren Stellenwert noch immer durch ihren Bezug zur Realität und in der Auseinandersetzung mit ihr. Wenn die Realität allerdings erschreckende Züge annimmt, sie sich in eine unvorhergesehene dramatische Richtung entwickelt, kann aus der Lektüre eine verstörende Erfahrung werden. Ende August erschien der Debütroman „Gewässer im Ziplock“ der Berliner Autorin Dana Vowinckel. Am 7. Oktober griff die palästinensische Terrororganisation Hamas Israel an. Und ich bin mittendrin in diesem Buch, das von einer jüdischen Familie, vom jüdischen Urschmerz infolge des jahrhundertelangen wie aktuellen Antisemitismus und des Grauens der Shoa sowie vom schwelenden Konflikt im Nahen Osten erzählt.

Zwei Perspektiven: Vater und Tochter

Man wird dieses Buch wohl nicht mehr ohne den jetzigen Bezug lesen können, wenngleich dem Roman schon vor den Ereignissen in Israel und den aktuellen Geschehnissen im Gazastreifen Aktualität zugesprochen werden konnte. Die Familie der 15-jährigen Heldin Margarita und deren Geschichte ist der Spiegel für all jene Themen. Erzählt wird die Handlung aus der Perspektive der Jugendlichen und ihres Vaters, die gemeinsam in Berlin wohnen. Mutter Marsha, eine US-amerikanische Linguistin, hat die Familie verlassen, als Margarita noch sehr klein war, und lebt in Israel. Avi, der als Vorbeter in einer Synagoge arbeitet und jüdische Feste begleitet, ist fortan alleinerziehender Vater.

Dana

Ihre Sommerferien verbringt die 15-Jährige traditionell bei den Großeltern in Chicago. Doch diesmal ist alles anders. Marsha wünscht, dass Margarita zu ihr nach Israel kommen soll. Avi gibt sein Einverständnis und seine Tochter fliegt von den USA in den Nahen Osten. Allerdings beginnt der Ausflug in die Heimat ihres Vaters, dem Land, wo sich ihre Eltern einst kennengelernt haben, alles andere als gut. Margarita steht allein und verlassen auf dem Flughafen. Lior, den sie im Flieger kennengelernt hat, nimmt sie erst einmal mit zu sich nach Tel Aviv. Es wird nicht die einzige Szene sein, in der das Mädchen in der Fremde auf sich allein gestellt sein wird. Als Marsha glaubt, ihre Tochter sei verschwunden, reist Avi nach Israel, um seine Tochter zu suchen. Die Ereignisse überstürzen sich, als Margaritas Großmutter bei einem Unfall in der Wohnung schwer verletzt wird. Zu dritt fliegt die Familie nach Übersee.

Drei Schauplätze, drei Kontinente

Die verschiedenen Hauptschauplätze mit Berlin, Chicago und Israel auf drei Kontinenten verteilt hält die junge Autorin souverän in der Hand. Es bildet sich ein Dreieck – ausgenommen eines Nebenschauplatzes, als Avi sich eine Auszeit an der Nordseeküste nimmt. Ein Dreieck, das als Sinnbild für die Zerrissenheit der Familie stehen kann, die letztlich nur körperlich zusammenkommt, um den Großeltern zur Seite zu stehen. Innerlich sind sie sich noch immer fremd und zueinander distanziert geblieben, hat vor allem Avi die Trennung noch nicht überwunden; währenddessen versucht Marsha, ihrer Tochter näher zu kommen.

„Es klang alles beinah lächerlich amerikanisch, und es kam Margarita vor, als hätten ihre Großeltern versucht, sie in eine Light-Version von Marshas Jugend zu stecken, doch das Deutsche, das Andere, das Dazwischen quoll an allen Ecken und Enden aus ihr heraus wie Kulturbauschaum.“

Die Welt der jugendlichen Heldin ist dabei nah an der Welt der Autorin. Dana Vowinckel wurde 1996 als Tochter einer deutschen Historikerin und eines amerikanischen Literaturwissenschaftlers in Berlin-Kreuzberg geboren. Ihre Großeltern waren in die USA emigriert. Sie wuchs auf in einem intellektuellem Umfeld. Und womöglich ist sie genauso mit Büchern versorgt worden wie Margarita, die von ihrem Vater regelmäßig Geld erhält, um sich selbst Bücher zu kaufen.

Während sie mitten in der Pubertät steckt, mit Freunden ausgiebig feiert, Liebe und Sex ausprobiert, ihre Jugend genießt und sich zugleich aber in dieser zerrissenen Familie finden muss, bildet Avi den größtmöglichen Kontrast – als verantwortungsvoller Vater, der, in der jüdischen Gemeinde angestellt, die Religion auch lebt. Über ihn wird mittels Rückblenden die wechselvolle Geschichte des Vaters, der Familie und die an unterschiedlichen Lebensvorstellungen gescheiterte Liebe aufgerollt und viel über das jüdische Leben vermittelt, wenn über Liturgie und Gebete, über jüdische Feste und Traditionen sowie Speisevorschriften erzählt wird.

Historische wie brisante Themen

Es ist gerade die vielschichtigere Perspektive des Vaters, mit der dieser Debütroman an Substanz und Größe gewinnt. Wie Vowinckel diese eindrucksvolle Familiengeschichte zudem mit den historischen wie brisanten Themen zusammenführt, eben über Shoa und Antisemitismus, mit kritischem Blick auch über das heutige Israel und die Spannungen im Nahen Osten schreibt, lässt staunen. Nichts an den inhaltlichen Themen und Einzelheiten erscheint zu viel und übermäßig. Alles fügt sich zu einem komplexen Bild. Nur manche Passage aus der Sicht der jungen Heldin, in der ihre Hingabe zum männlichen Geschlechtsorgan nahezu zelebriert wird, hätte man sich sparen können.

Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2021 wurde Dana Vowinckel, der in diesem Jahr ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats zugesprochen wurde, für einen Auszug aus ihrem Debüt „Gewässer im Ziplock“ mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet. Dass der Roman mit ungewöhnlichem Titel und ungewöhnlichem Cover allerdings bei den aktuellen großen Literaturpreisen gänzlich ohne Aufmerksamkeit geblieben ist, lässt Fragen offen. Ihn als Buch der Stunde zu bezeichnen, würde indes zu kurz greifen. Vielmehr liegt in dem anspruchsvollen Debüt eine weitreichendere Bedeutung: das jüdische Lebenswelten generell mehr in das Blickfeld zu rücken, um Vorurteilen und Hass entgegenzuwirken.

Eine weitere Besprechung des Romans gibt es jeweils auf den Blogs „literaturleuchtet“ und „Poesierausch“.


Dana Vowinckel: „Gewässer im Ziplock“, erschienen im Suhrkamp Verlag; 362 Seiten, 23 Euro

Foto von Robert Thiemann auf Unsplash

Ein Kommentar zu „Dana Vowinckel – „Gewässer im Ziplock“

  1. Ich habe das Buch ja vor dem Anschlag der Hamas gelesen, also noch etwas „unbefangener“. Ich finde dass Vowinckel wirklich sehr gut schreibt! Eine komplexe und interessante Familiengeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Toll!
    Mich haben im Gegensatz zu dir auch die sexuelle Überbetontheit der jugendlichen Protagonistin nicht gestört, weil das sehr echt rüber kommt. In diesem Alter ist Sex nunmal was ganz ganz Wichtiges.

    Jedenfalls ist das Buch bzw. die Autorin eine wahre Entdeckung!

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