Thomas Korsgaard – „Hof“

„Wenn die Leute nie weinen, werden sie so eigenartig. Dann verschwindet etwas in ihren Augen.“

Von der vielbeschworenen Idylle ist dieses Landleben weit entfernt. Tue kennt es nicht anders. Sein Zuhause ist ein heruntergekommener Hof, das nahegelegene Dorf im dänischen Nirgendwo bezeichnet er als Vorort der Finsternis. Sein cholerischer Vater verbrennt die toten Tiere, um Entsorgungskosten zu sparen, seine Mutter verzockt beim stundenlangen Online-Poker Geld, das die Familie nicht hat. Wir sind mittendrin in einer Tragödie, und wollen nicht wirklich da heraus, weil wir einen Zwölfjährigen begleiten, der den Tod kennt, aber das Leben liebt und aus seinem etwas machen will.

Auftakt einer Trilogie

Tue heißt der Held in Thomas Korsgaards erstem Roman „Hof“, der den Auftakt setzt zu einer Trilogie, für den der Däne in seinem Heimatland als literarischer Star gefeiert wird. Er war gerade 21 Jahre alt, als er dieses Debüt schrieb. Seine Romane haben sich in Dänemark mehr als 300.000 Mal verkauft; das Land hat gerade einmal knapp sechs Millionen Einwohner. 2021 wurde Korsgaard mit „De Gyldne Laurbær“, dem Goldenen Lorbeer, dem Literaturpreis des Dänischen Buchhändlerklubs, ausgezeichnet – als jüngster Preisträger bisher.

1728652226023neu Tue ist zugleich der Ich-Erzähler, der zu Beginn als Kind, später als Jugendlicher von den Geschehnissen auf dem Hof und seinen Erlebnissen berichtet. Ein Musterschüler und Goldjunge ist er nicht. Eher eine Art Klassenclown, was der Story lakonische Züge verleiht. Er wird regelmäßig zur Schulleiterin zitiert, weil er etwas verbockt hat, er klaut Pfandflaschen, um an ein wenig Geld zu kommen, und wird dabei erwischt. Mit seinem Vater, dem häufig gegenüber den Kindern die Hand „ausrutscht“, stiehlt er Kupferkabel entlang der Eisenbahn-Strecke.

Die Familie lebt in trostlos prekären Verhältnissen, der Bankrott ist nicht weit, der Onkel macht dem Vater ein Angebot. Die Mutter erleidet, schwanger mit dem vierten Kind, eine Fehlgeburt. Mit ihrem Verlust und ihren Depressionen wird sie allein gelassen. Überhaupt ist diese Familie ein Ausbund an emotionaler Kälte und Lieblosigkeit. Weder Mutter noch Vater sind im besten Sinne Eltern. Klar, dass sich Tue am liebsten eine andere Familie wünscht. Einzig Iben, eine ein Jahr jüngere Schulfreundin, steht ihm zur Seite und spricht ihn in dieser Vertrautheit auch auf seine Homosexualität an. Trotz dieser widrigen Verhältnisse ist Tue ein Stehaufmännchen, das sich nicht unterkriegen lässt, das immer noch die Hoffnung auf eine wundersame Veränderung bewahren will, egal wie tief die Familie auch sinkt.

Entsetzen macht sich breit

Die Handlung, auf insgesamt 53 Kapitel verteilt, setzt sich aus vielen kleinen Episoden und Szenen zusammen. Tue erweist sich als aufmerksamer Beobachter, der die Lage erkennt und beschreiben kann, er  sieht, wie die Eltern ihre Gefühle unterdrücken. Jugendliche Erzählstimmen haben in ihrer Direktheit immer etwas eigenes an sich. Die Sprache ist klar, nahezu sachlich, selbst wenn sich die Ereignisse überschlagen, das ganze Leid und Elend als solches benannt wird.

Im Laufe der Handlung wird die Stimmung zunehmend düster. Ein gewisses Entsetzen macht sich breit, ein beklemmendes Gefühl entsteht. Manches Mal hat mich all das inhaltlich an den Roman „Was man sät“ des niederländischen Autors Lucas Rijneveld erinnert, in dem ebenfalls eine Kindheit auf einem Bauernhof voller Trauer und Schmerz, menschlicher Kälte und Gewalt schonungslos erzählt wird.

„Ich wollte schreien, aber es fühlte sich falsch an, mitten auf der Straße zu stehen und zu schreien. Es roch nach Holunderblüten. Ich lief über die Felder, aber auch das fühlte sich falsch an, deshalb drehte ich um und ging nach Hause. Es gab keinen anderen Ort, an den ich hätte gehen können.“

Korsgaard, 1995 im dänischen Viborg geboren, studierte nordische Sprachen und Literatur an der Universität Aarhus, ohne jedoch das Studium abzuschließen. Die Bände zwei und drei der Tue-Trilogie erschienen in Dänemark im Abstand von zwei Jahren. Im kommenden Jahr werden die Teile zwei und drei auch auf Deutsch erscheinen. Der Auftaktband kommt in einer großartigen Aufmachung daher – mit schwarzem Farbschnitt und griffigem Einband. Neben seinen Romanen veröffentlichte Korsgaard einen Erzählband sowie gemeinsam mit der Sängerin und Autorin Frida Brygmann drei Kinderbücher.

Mit „Hof“ hat Korsgaard eine dramatische, autobiografisch inspirierte Coming-of-Age-Geschichte geschrieben, bei der man sich wohl auch die Frage stellen kann, weshalb man diese Trost- und Lieblosigkeit einer bedrückenden Kindheit als Leser beobachten, ja in gewisser Weise aushalten will. Aber womöglich geht es darum, einen jugendlichen Helden ein Stück zu begleiten, durch dessen Lebenswillen etwas beflügelt zu werden – oder um vieles im Leben nicht als selbstverständlich anzusehen.


Thomas Korsgaard: „Hof“, erschienen im Kanon Verlag, in der Übersetzung aus dem Dänischen von Justus Carl und Kerstin Schöps; 288 Seiten, 25 Euro

Foto von Nicolas Weldingh auf Unsplash

2 Kommentare zu „Thomas Korsgaard – „Hof“

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